Die Pellinor Saga Bd. 3 - Die Krähe
nie von seiner Schwester geträumt. Obwohl die Furcht, die der Traum in ihm heraufbeschworen hatte, noch nachhallte, verblasste sie angesichts seiner Gedanken an Maerad. Nun sah er sie vor seinem geistigen Auge deutlich vor sich - den unverwandten Blick ihrer blauen Augen, das schwarze Haar, das ihr in widerspenstigen Strähnen in das weiße Gesicht hing, ihre Züge, die stets sanft geworden waren, wenn sie ihn angeblickt hatte -, und zum ersten Mal verspürte Hem das volle Ausmaß des Schmerzes der Abwesenheit seiner Schwester. Sie zu vermissen, bereitete ihm Qualen, die er in wachem Zustand nicht völlig an sich heranließ; doch nun, in der Tiefe der Nacht, brachen sie ihm das Herz auf, rissen eine Wunde, für die es keine Heilung gab.
Irc, der wie üblich auf Hems Stuhl hockte, erwachte durch Hems Weinen und krächzte schläfrig, dann flatterte er aufs Bett. Er ließ sich auf dem Kissen neben Hems Wange nieder. Das matte Licht der Sterne fing sich in seinem Gefieder, und er legte den Kopf schief, um Hem mit einem Auge zu betrachten. Hem streckte die Hand aus und kraulte Irc am Hals. Der Vogel kam näher und kauerte sich neben den zitternden Leib des Jungen, schmiegte sich an seine Brust wie eine Katze. Hem streichelte weiter die weißen Federn des Tieres, spürte sie steif und kühl unter den Fingern. Ircs warmes Gewicht, so leicht und doch so ausgeprägt gegenwärtig, tröstete ihn nach und nach. Schließlich schlief Hem wieder ein, und Irc blieb bei ihm im Bett, den Kopf unter eine Schwinge gesteckt.
Eines Morgens einige Wochen nach Zelikas Ankunft verkündete Saliman, dass er weggehen würde.
»Für wie lange?«, fragte Hem bestürzt. Er hatte gedacht, Saliman würde bis zum Angriff in Turbansk bleiben.
»So lange es notwendig ist«, erwiderte Saliman. »Ich wurde zum Wall von II Dara gerufen, wo in diesem Augenblick viele üble Dinge geschehen.«
»Wirst du kämpfen?«, fragte Hem, von einer plötzlichen Furcht ergriffen. Was, wenn Saliman nicht zurückkäme?
»Ich ziehe nicht los, um zu kämpfen, obwohl dort eine verbitterte Schlacht tobt«, antwortete Saliman. »Fürchte nicht um mich. Trotzdem schadet es nicht, darüber nachzudenken, was zu tun wäre, wenn ich nicht heimkehre. Wenn ich in drei Tagen nicht zurück bin, sollten du und Zelika mit einem Schiff den Hafen verlassen, solange ihr noch könnt. Ich habe mit Nerab, dem Hafenmeister gesprochen: Er wird euch erkennen, und es werden Schiffe in See stechen.«
Hem starrte Saliman elend an, dessen Worte er alles andere als tröstlich empfand. »Kann ich mit dir kommen?«
»Nein, Hem«, entgegnete Saliman. »Oslar hat wieder um deine Hilfe in den Heilhäusern gebeten. Letzte Nacht sind viele Verwundete von der Schlacht bei II Dara eingetroffen, und er hat zu wenig Leute. Vorerst wirst du hier gebraucht.« »Warum wolltest du dann, dass ich hierbleibe, wenn ich dich nicht begleiten darf?«, bohrte Hem leidenschaftlich nach. »Ich will nicht zurückbleiben …«
»Ich jedenfalls werde Turbansk nicht verlassen«, tat Zelika kund, wobei ihre Augenbrauen eine sture Linie bildeten.
Saliman seufzte. »Hem, Zelika - das ist mein Befehl und mein Wunsch, und es ist ja nur für den Fall, dass ich nicht zurückkehre. Ich will nicht darüber streiten.« Hem erwiderte Salimans strengen, düsteren Blick mit verzweifeltem Zorn und brennendemHerzen. »Du bist hier geblieben, Hem, weil mein Weistum mir sagte, dass du in dieser Geschichte eine Rolle zu spielen hast, wenngleich sich mir nicht offenbart, worin sie besteht. Es ist nicht gut, wenn ein Barde seinem Weistum zuwiderhandelt, selbst wenn es schmerzlich irrig scheint: Das ist eine Lektion, die ich im Verlauf eines langen und bisweilen gefährlichen Lebens gelernt habe. Aber wenn ich nicht hier bin, gibt es niemanden, der dich führt. Das Schicksal hat viele Verzweigungen, und manche sind dunkler, als du verstehen kannst. Und ich muss es dir deutlich sagen, so deutlich ich kann: Meine Voraussicht zeigt mir, dass es ein großer Schaden für das Licht - und für Maerad wäre - wenn du in Turbansk bliebst, sollte ich nicht heimkehren. Deshalb befehle ich dir, die Stadt zu verlassen.«
»Wie könnte ich dadurch Maerad schaden?«, fragte Hem verwirrt und verletzt. Er hatte gedacht, Saliman hätte ihn bleiben lassen, weil er ihn liebte; nun jedoch hörte es sich an, als spräche er von einer nüchternen Entscheidung.
»Das hat sich mir nicht offenbart.« Salimans Züge wurden milder; er beugte sich vor und hob
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