Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
an einer günstigen Stelle den Einbruch der Nacht abwarten.« Leichter Regen setzte ein und trug zu ihrer düsteren Stimmung bei. Hem wurde zunehmend besorgter: Saliman hatte recht, Desor glich einer Falle. Allmählich wurde ihm übel. Eingedenk der Übelkeit, die er in den Hügeln von Glandugir verspürt hatte, fragte er sich unbehaglich, ob sein Erdgespür in ihm erwachte. Zwar war das Land nicht vergiftet wie dort, aber er empfand schon seit dem Betreten des Gaus Beklommenheit, als lasteten Unheil verkündende Schatten auf seinem Geist. Höchstwahrscheinlich lag es an der Gegenwart von Untoten, vielleicht auch an der Schwarzen Armee, jedenfalls war er überzeugt davon, dass vor ihnen genauso schlimmes Unheil lauerte wie hinter ihnen. In der Luft hing ein leicht bitterer Geschmack, der ihm den Mund austrocknete, ein Geschmack wie Hexerei. Unbehaglich überprüfte er erneut seine Abschirmung; sollte ein umherstreifender Untoter Magie an ihnen wittern, würden sie alle in Schwierigkeiten stecken.
Auf der Kuppe des nächsten Hügels ließ Hekibel sie anhalten.
»Wenn wir nicht bald ausweichen, werden wir es nicht mehr können«, sagte sie. »Ich glaube, es bedarf keiner besonderen Voraussicht, um zu erahnen, dass unser Weg umso gefährlicher wird, je mehr wir uns Desor nähern. Was meinst du, Saliman?«
Saliman reihte sich neben Hem und Hekibel. »Ich fürchte, du hast recht«, erwiderte er. »Ich denke, wir sollten zur Kuppe des nächsten Hügels weiterreiten, um zu sehen, ob sich uns von dort aus eine Möglichkeit bietet, nach Westen auszuweichen. Wenn nicht, sollten wir umkehren. Ich vermute, Reisenden ist es nicht gestattet, hier ihr Lager aufzuschlagen; ich habe lange keine mehr gesehen, obwohl es zuvor noch vor Leuten wimmelte. Und vergesst nicht, was der Hauptmann sagte.«
Jenseits des Hügels fiel das Gelände zu einem breiten, flachen Bereich hin ab, der einer seichten Schale in der Erde ähnelte und wahrscheinlich einst schönes Ackeroder Waldland dargestellt hatte. Nun besaß es das desolate Aussehen einer frisch gerodeten Landschaft, zernarbt von unebenen, schlammigen Straßen. Im Osten befand sich eine ummauerte Ortschaft, die Saliman als Bregor erkannte, die zweitgrößte Stadt des Gaus von Desor. Unmittelbar an die Mauern grenzte ein Meer von Zelten in langen, geordneten Reihen. Hem stockte der Atem: Dies war bereits eine mächtige Armee, viel größer, als er sie sich vom Rand des Gaus aus vorgestellt hatte.
Hekibel blickte ihm in die geweiteten Augen. »So viele!«, flüsterte sie Hem zu. »Woher kommen sie alle? Und wozu sind sie hier?«
Saliman starrte mit ausdrucksloser Miene auf das Lager. »Beim Licht«, entfuhr es ihm. »Ich hatte keine Ahnung, dass sich eine solche Armee hier geschart hat. Desor war in der Tat fleißig. Die Soldaten können nicht alle aus dem Gau stammen; sie müssen auch aus Ettinor oder von noch weiter her kommen …«
»Denkst du, sie sind zur Verteidigung des Gaus hier?«, fragte Hem mit zitternder Stimme.
»Es wäre tröstlich, das zu glauben, Hem. Aber ich fürchte, unter ihnen sind Untote. Bestimmt spürst du ihre Gegenwart auch, oder? Ich denke eher, dass sie auf die Schwarze Armee warten, um sich mit ihr zu vereinen, und dass wir den Beginn des Feldzugs des Namenlosen gegen Nord-Annar vor uns sehen.«
Mit offenem Mund starrte Hem auf das Lager. Innerlich be-schlichen ihn erste Anzeichen von Panik. Die Kraft von Maerads Ruf hatte sich gesteigert, seit er das Hohle Land erblickt und als sein Ziel erkannt hatte, und sie lag im Widerstreit mit der Notwendigkeit für Vorsicht. Als er nun die riesige Armee vor ihnen betrachtete, flammte jenes Gefühl der Dringlichkeit noch stärker auf. Am liebsten wäre er über die Mauern zu ihrer Rechten gesprungen und über die Felder galoppiert, Bluthunde hin, Bluthunde her.
Er löste den Blick vom Lager und ließ ihn westwärts wandern -und erspähte, wonach sie den ganzen Nachmittag gesucht hatten: eine breite Straße, die nach Westen führte.
»Aber da ist eine Straße!«, stieß er hervor und deutete darauf. »Genau in der Mitte des Weilers dort… Und seht nur, sie führt davon weg in Richtung dieser Hügel…«
Saliman folgte seinem Blick. »Ich sehe sie«, pflichtete er ihm bei. »Aber um diesen Weg einzuschlagen, müssen wir gefährlich nahe an dieser Armee vorbei. Mir widerstrebt zutiefst, mich näher an Bregor heranzuwagen. Ich finde, wir sollten umkehren, das Lager für die Nacht aufschlagen und auf eine
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