Die Pellinor Saga Bd. 4 - Das Baumlied
Ich habe mich so sehr verändert. Aber ich bin immer noch Maerad… »Ich wollte dir sagen -«, begann sie und zuckte zusammen, weil sie es laut ausgesprochen hatte. Doch würde er sie hören? Sie bohrte die Nägel in die Handflächen, um sich davon abzuhalten, zu weinen. Auch wenn niemand hier war, um es zu hören, empfand sie es als wichtig, zu sagen, was sie sagen wollte. »Ich wollte dir sagen, dass dein Gedicht mich gerettet hat, als ich vom Winterkönig in dessen Palast gefangen gehalten wurde«, sprach sie. »Ich las dein Gedicht, und es hat mich an jeden erinnert, den ich liebe, dich eingeschlossen. Es hat mich daran erinnert, weshalb wir so hart kämpfen. Es hat mich daran erinnert, wie viel Schönheit es gibt…« Maerad starrte auf ihre auf dem Schreibtisch ruhenden Hände hinab, die eine heil, die andere verstümmelt. Sie biss sich auf die Lippe. »Wie viel Schönheit, und weshalb sie eine Rolle spielt. Es hat mich daran erinnert, dass selbst, wenn wir sterben, nicht alles, was wir tun, nutzlos ist. Du sprichst, obwohl du tot bist, immer noch zu mir. Jedes Mal, wenn ich deine Gedichte lese, höre ich deine Stimme.«
Sie setzte ab und holte tief Luft. »Aber es hat mich auch trauriger denn je zuvor gemacht, Dernhil. Deine Gedichte zu lesen, ist nicht dasselbe, wie mit dir zu reden. Mein Vetter Dharin wird nie zurückkehren. Auch meine Mutter und meinen Vater werde ich nie wiedersehen, wie sehr ich es mir auch wünsche. Vielleicht werden wir alle in diesem Kampf sterben. Und ich weiß, dass ich gerade mit einem leeren Raum rede, dass du nicht hier bist. Aber vielleicht kannst du irgendwo, an einem Ort, wo die Zeit anders ist, hören, was ich sage, und lächeln, und das tröstet mich ein wenig. Gewiss, das ist eine dumme Vorstellung, trotzdem denke ich es. Vielleicht ist es auch gar nicht so dumm. Ich weiß es nicht… ich wünsche mir nur mit ganzem Herzen, du wärst hier, damit ich mit dir reden und dir all diese Dinge sagen könnte.«
Maerad verstummte und blieb noch eine lange Weile mit dem Kopf in den Händen am Schreibtisch sitzen. Schließlich stand sie auf und ging zur Tür, wo sie sich für einen letzten Blick auf Dernhils verwaistes Zimmer umdrehte. »Leb wohl, mein Freund«, flüsterte sie und schloss die Tür hinter sich.
Als Maerad in ihr Zimmer zurückkehrte, leerte sie ihr Bündel und legte all ihre Besitztümer auf das Bett. Als Sklavin hatte sie nur die Kleider besessen, die sie am Leib trug, und ihre Leier, weshalb sie immer noch leicht ungläubig über ihren bescheidenen Reichtum war, auch wenn er insgesamt in ein einziges Bündel passte.
Die auf dem Bett ausgebreiteten Gegenstände schienen wie ein greifbares Tagebuch ihres Lebens.
Am kostbarsten war ihre Leier, die wohlbehalten in der Lederhülle ruhte, die Cadvan ihr geschenkt hatte. Sie legte erst Dernhils Buch daneben, dann ihr neues Schwert, Eled. Außerdem hatte sie kleinere Dinge wie ihre Reitsachen, eine Wasserflasche und einen Schlauch mit Medhyl, jenem Kräutergetränk, das Barden verwendeten, um auf Reisen die Müdigkeit zu bannen. Ferner besaß sie Ersatzkleider, nunmehr frisch gewaschen und zusammengelegt. Einige ihrer Habseligkeiten waren Geschenke: der weiße Stein, der an einer zierlichen Kette um ihren Hals hing, eine Gabe von Silvia; der erlesene Goldring, den sie von der Elidhu-Königin Ardina erhalten hatte und den sie an der rechten Hand trug; eine grob gefertigte Reetflöte, ebenfalls von Ardina; ein kleiner, aus Elfenbein geschnitzter Fisch von den Altweisen, die sie im Norden besucht hatte, um Wissen über das Baumlied von deren Weisem Inka-Reb zu erlangen. Daneben legte sie jenen Schwarzstein, den sie einem Untoten in Thorold abgenommen hatte. Der Schwarzstein war ein seltsamer Gegenstand aus Albarac, einem unter Barden geschätzten Mineral, weil es Magie abzulenken oder aufzunehmen vermochte. Sie strich mit der Fingerspitze über die Oberfläche des Steins; eigentlich fühlte er sich eher wie etwas nicht Stoffliches denn wie ein fester Gegenstand an, weder kalt noch warm, weder rau noch glatt. Er war an einer Silberkette befestigt, doch da er ihr ein unheimliches Gefühl verursachte, trug sie ihn nie. Sie fragte sich, ob sie ihn je verwenden würde.
Einige Dinge fehlten auch, weil Maerad sie verschenkt hatte. Eine kleine Holzkatze hatte sie Mirka gegeben, der alten Frau, von der sie in den Bergen gepflegt worden war, als sie beinah gestorben wäre. Eine Silberbrosche mit Lilien, das Abzeichen der Schule
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