Die Pension am Deich: Frauenroman
blieben wie von einem Grauschleier verhangen und konnten sie nicht retten. Es zog sie mit jeder Faser in Eriks Nähe. Kurz bevor sie ihn traf, dachte sie: Du bist verrückt! Eine komplette Närrin! Doch wenn sie ihm gegenüber stand und in seine dunklen Augen blickte, hatte sie alle guten Vorsätze vergessen. Niemals hätte Monika geglaubt, in so einen Zwiespalt zu geraten. Sie hätte sogar einen Eid darauf geschworen. Ihr kann das nicht passieren. Aber es ist ihr passiert. Ihr sonst so glasklarer Verstand hat nur als müde argumentierender Verlierer in der Ecke gesessen und ihrem Treiben ohnmächtig zugesehen.
Die Schleier der Zirren verdünnen sich immer mehr, sind nur noch ein Hauch. Gleich werden sie verschwunden sein und wieder das pralle Blau freigeben. Am liebsten würde sie hier am Fenster hocken bleiben und sich von den wechselnden Farben des Himmels und seinen Wolkenbildern ablenken lassen. Aber Frank ist schneller mit der Reparatur fertig, als sie gehofft hat. Unternehmungslustig kommt er in das Zimmer gestürmt. »Abfahrt! Die Räder stehen bereit.«
»Super.« Monika lächelt matt.
»Was ist?«, fragt er besorgt und zieht sie zu sich heran.
Sie lehnt sich an seine Schulter. Verdammt, warum spürt er plötzlich jede Regung? Durchschaut er sie? Ach was. Sie bildet sich das nur ein, weil sie sich selbst so transparent fühlt.
»Nichts ist. Aber ich bin schon wieder müde. Komm, lass uns fahren. Dann kommt mein Kreislauf in Schwung.«
Vor der Haustür versperrt Tomke ihnen den Weg. »Ihr Mann ist ein Goldstück. Hier, ein kleines Lunchpaket für unterwegs.«
»Wie nett von Ihnen«, bedankt sich Monika artig und nimmt das Päckchen entgegen. Sie sieht in Tomkes Augen den leisen Vorwurf, nicht mehr Lob für den besten aller Ehemänner übrig zu haben. Es stört sie nicht. Frau Heinrich soll denken, was sie will.
Es ist mittlerweile angenehm warm. Sie können kurzärmelig radeln. Ihre Jacken haben sie nur locker um die Hüften gebunden. Sie fahren bei der ersten Gelegenheit den Deich hinaus. Gleich dahinter liegt ein großzügig angelegter Abenteuerspielplatz. Kinder spielen. Ihre fröhlichen Stimmen wehen zu ihnen hoch. Die Eltern dösen auf Bänken in der Sonne. Monika wirft ihnen einen wehmütigen Blick zu. Die haben es gut, schießt es ihr mit einem Anflug von Neid durch den Kopf. Ihr Tagesablauf ist klar strukturiert.
»Rechts oder links?«, fragt Frank.
»Rechts!«, entscheidet Monika, ohne sich zu erinnern, wohin der Weg führt.
Vor dem Kurkartenhäuschen erkennt sie die Frau in Schwarz. Sie steht dicht am Deichzaun und blickt über das Meer. Ihr goldbraunes Haar weht leuchtend im Wind. Als sie auf ihrer Höhe sind, ruft Frank munter: »Einen schönen Urlaubstag für Sie!« Die Frau macht vor Schreck einen kleinen Satz zur Seite. Monika lächelt ihr nur freundlich zu. Sie will nicht auch noch einen Gute-Laune-Spruch loslassen. Das passt irgendwie nicht. Es ist nicht nur die Kleidung. Es umgibt diese Frau etwas Geheimnisvolles. Ein Hauch Melancholie. Ähnlich wie die Kameliendame. Monika spürt ihren Blick im Rücken. Vielleicht beneidet sie mich. Ich kann mit meinem Mann den Tag verbringen, während sie hier allein steht und sich auch so fühlt. Oder sie bedauert mich, weil sie sich nicht vorstellen kann, in einer festen Beziehung zu leben. Und ich? Ich weiß gerade nicht, ob ich mich bedauern oder beneidenswert fühlen soll. Die Einschätzung für mein Leben ist mir abhanden gekommen. Den Gedanken findet Monika so traurig, dass sie sich die Tränen verkneifen muss.
Zum Glück fordert der Fahrtweg ihre volle Aufmerksamkeit. Er ist schmal, und sie nähern sich dem Zentrum. Zur rechten Hand liegt die Frieslandtherme, dahinter erkennt man das Kurmittelhaus. Die Menschen sind bestens gelaunt. Sie genießen sichtlich die ersten Frühlingstemperaturen.
Der Weg leitet sie im Bogen vom Deich herunter aus dem Ort auf eine asphaltierte Landstraße. Auf der einen Seite sind weichfließende Sieltiefs, ausgedehnte Weiden und vereinzelt liegende Bauernhöfe zu sehen. Links von ihnen verläuft der Deich. Er ist von weißen Tupfen übersät. Schafe und noch einmal Schafe. Unter ihnen viele niedliche Lämmer.
»Lecker Braten«, ruft Frank und fährt in Schlangenlinien, um auf Monikas Höhe zurück zu fallen.
»Barbar!«, empört sie sich. Dabei verachtet sie selbst auch nicht gerade einen Lammbraten.
»Pharisäerin!«, kontert ihr Mann prompt. Monika muss lachen. Frank streicht ihr kurz über den Arm
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