Die Pension am Deich: Frauenroman
und übernimmt wieder die Führung. Sie blickt auf seinen Rücken und denkt: Ich liebe ihn. Ja, ich liebe ihn. Das ist keine verzweifelt aufgesagte Beschwörungsformel. Das ist die Wahrheit. Warum fällt es mir dann so schwer, zu ihm zurückzufinden? Weil ihr Ewigkeitsglaube an die Unerschütterlichkeit ihrer Zweierbeziehung ins Wanken gekommen ist. Ja, sie hat wirklich für immer gemeint. Und doch hat sie sich so verlaufen können. Man propagiert doch ständig: In einer intakten Beziehung hat ein Dritter keine Chance! Alles Theorie, denkt Monika grimmig. Intakt oder aus dem Lot. Eine Langzeitbeziehung ist keine starre Größe. Sie ist sich sicher, in jeder Beziehung gibt es anfällige Augenblicke. Okay, das ist ihre neue Einsicht. Noch vor gut zwei Wochen hätte sie sich und Frank auf der sicheren Seite gewähnt. Der absolut sicheren, und das war wahrscheinlich der Denkfehler. Wie konnte sie sich so sicher sein? Obwohl sie die Einsamkeit, die zunehmende Entfernung zwischen ihnen gespürt hat. Aber dieses Beziehungstief hatte sie auf den unerwartet plötzlichen Auszug der Zwillinge geschoben. Eine Phase der Umorientierung. Sie hatten nur verlernt, miteinander zu zweit zu sein. Was heißt verlernt? Wir hatten nie die Gelegenheit, es zu trainieren! Um ein Haar hätte Monika den letzten Satz laut herausgeschrien. Schluss jetzt mit der Grübelei, weist sie sich zurecht und tritt kräftig in die Pedale. Sie überholt Frank, als der Weg wieder auf die Deichkrone hinaufführt.
»Holla!«, ruft er anerkennend und lässt ihr großzügig den Gipfelsieg. Oben angekommen, können sie über das Meer blicken. Das Wasser ist rücklaufend. Die zerklüftete Wattlandschaft sieht hier dunkel und sumpfig aus. Sträucher, die wie ins Watt gebohrte Zweige aussehen, teilen den schwarzen Schlick in Felder auf. Ein Schutz, um durch die Gezeiten nicht immer mehr Land zu verlieren.
»Haltet euch ganz rechts!«, schreit eine Frau so laut, dass sich ihre Stimme schrill überschlägt. Monika fährt zusammen. Zwei Jungen, geschätzte fünf oder sechs Jahre alt, kommen ihnen auf dem schmalen Deichweg entgegen. Die Eltern bemühen sich hinter den kleinen Flitzern herzuradeln. Der Vater brüllt: »Passt auf! Nicht so schnell!«
Die Jungen passen auf. Hochkonzentriert. Ihre Köpfe glühen unter den Fahrradhelmen wie kurz vorm Zerplatzen. Frank und Monika halten beide an, um ihnen den Weg freizugeben. Sie werden mit dankbaren Blicken der Eltern belohnt. Die sehen total fertig aus. Sie beeilen sich, ihrer Brut zu folgen. Gleich endet der Deichweg und sie müssen wieder auf die Straße. Dann müssen sie noch mehr Kommandos geben.
Monika lächelt still in sich hinein. Nein, um den Stress beneidet sie niemanden. Die Phase hatten wir. Die benötigt keine Wiederholung. Jede Fahrradtour samt wettertauglicher Kleidung und Proviant war laut Frank besser als eine Expedition an den Nordpol von ihr vorbereitet gewesen.
Der Weg leitet sie nach Hooksiel. Aber Frank will nicht in den Ort. Er will weiter und sich den Außenhafen ansehen. Das ist Monika recht. Die gleichmäßige Bewegung des Radelns, die Sonne und der offene Blick nach allen Seiten machen ihr zunehmend den Kopf frei.
Durch kleinwüchsige Bäume blitzen weiße Wohnwagen. Ein Campingplatz. Dahinter führt ein asphaltierter Strandweg direkt am Meer entlang bis zum Ende der Landzunge. Sie besteht aus einem Sandstrand und wird im Sommer sicher als Badeplatz genutzt. Wenn das Wasser da ist. Jetzt ist gerade Ebbe. Hier gleicht das Watt vom Aussehen einem Samtteppich und lockt zum Begehen. Was viele Urlauber auch tun. Einige wandern sogar schon barfuss über den freigegebenen Meeresboden. Weit nach draußen, bis an die Flutwelle. Sie ist vom Ufer aus nur als weißer Kamm auszumachen.
»Willst du?«, fragt Frank auffordernd.
»Heute nicht«, wehrt Monika ab. »Vielleicht morgen.«
»Okay. Dann lass uns rüber zum Hafen gehen.«
Sie schieben ihre Räder über den Deich. Auf der anderen Seite liegt der Außenhafen. Kein retuschiertes Hochglanzbild für Touristen. Die Fischkutter sind in Betrieb und echt wie die umherlaufenden Arbeiter. Kein unnötiger Tand. Das gibt dem Hafen ein herbes Aussehen. Die Luft riecht salzig, leicht modrig und nach Geräuchertem. Der Geruch unterstreicht den optischen Eindruck. Gegenüber im Hafenbecken liegen zwei Ausflugsdampfer. Sie fahren zu den Seehundbänken und nach Helgoland.
Vor dem kleinen Fischbistro sind nur ein paar schlichte Tische und Holzbänke aufgestellt.
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