Die Pension am Deich: Frauenroman
Heinrich hat Liebeskummer.
»Die Sonne kommt durch. Ich werde einen letzten Kaffee auf der Terrasse trinken«, sagt Anne und steht auf.
»Flüchten Sie vor mir?«, kommt die prompte Nachfrage. Anne schüttelt lächelnd den Kopf. Die ungewohnt direkte Art dieser Frau irritiert sie – und ist ihr sympathisch.
»Nein, ich will nur an die frische Luft. Sie können gerne mitkommen.«
»Mach ich.«
In dem Augenblick wird in der ersten Etage schwungvoll eine Tür zugeklappt und Füße trappeln die Treppe herunter.
Tomke zieht bedauernd ihre Schultern hoch: »Ich muss meine anderen Gäste abfüttern. Nehmen Sie sich eine Decke mit nach draußen. Ich komme gleich nach!«
Anne greift sich eine und geht auf die Terrasse. Sie ist froh, dass sie schon gefrühstückt hat. Die anderen Gäste sicher auch. So können sie sich ungeniert unterhalten und brauchen keine Rücksicht zu nehmen. Der geräumige Esstisch ist gemütlich und eine schöne Idee, aber es ist nicht jedermanns Geschmack, wie in einer Großfamilie beisammen zu sitzen. Anne lehnt den Kopf gegen die Rückenlehne und umschließt ihren Kaffeebecher mit beiden Händen. Zum Glück gibt es in dieser Pension richtige Tassen und nicht diese friesischen Finkennäpfe. Selbst ihre Wirtin trinkt den Tee aus einem Becher.
»Wie es im wirklichen Leben abläuft, weiß ich selbst! Das will ich nicht auch noch lesen«, wiederholt Anne in Gedanken. Die impulsive Aussage würde sie am liebsten auf Tonband speichern und Charlotte vorspielen. Die flapsig hingeworfene Kritik ihrer Tochter macht ihr kein Kopfzerbrechen, sondern Charlotte. Plötzlich will ihre Lektorin einen völlig anderen Kurs fahren. »Lebensnahe Figuren reflektieren die Gefühle der Leserinnen«, ist einer ihrer neuen Lieblingsleitsätze. »Die Frauen müssen sich mit denen aus der Geschichte identifizieren können, sich verstanden fühlen. Einen Denkanstoß bekommen, wie nach einem Gespräch mit einer guten Freundin.«
Anne schüttelt den Kopf. Charlotte sollte sich wirklich einmal mit Tomke unterhalten. Die würde ihr schon sagen, was sie von einem Buch erwartet. Jedenfalls keine Realitätsnähe. Oder sie sollte Charlotte das Manuskript ihrer eigenen Lovestory unter die Nase halten. Das liegt noch immer unveröffentlicht im Schreibtisch. Geschrieben hat sie es, nachdem sie todunglücklich nach Deutschland zurückgekehrt war. Die Geschichte hat kein Happy-end. Dafür die von Charlotte geforderten realen Personen und lebensnahen Dialoge. Obendrein jede Menge Herzblut.
Um irgendetwas zu unternehmen, hatte Anne es damals mit dem Mut der Verzweiflung an mehrere Verlage geschickt. Es wurde von allen mit dem schnöden Satz, dass ihr Skript nicht in das Konzept ihres Programms passen würde, abgelehnt. Nur ein Lektorat hatte sich die Mühe gemacht, die Ablehnung zu begründen. Ihr Romanentwurf wäre vom Stil her ansprechend und zeige durchaus ein vorhandenes Schreibtalent. Aber man könnte das Thema nicht nachvollziehen und daher keinem Genre zuordnen. Für die Reihe »Freche Frauen« viel zu melancholisch. Für eine realistische Frau-Mann-Auseinandersetzung zu klischeebesetzt. Sie sollte sich überlegen, einen klassischen Liebesroman zu schreiben. Anne kann sich noch erinnern, wie sie die Absage in der Hand hielt und dachte: Aber das ist ein Liebesroman! Ein richtiger Liebesroman!
Als Charlotte ihr Jahre später die Möglichkeit bot, für ihren Verlag zu arbeiten, hatte Anne längst verstanden. Sie schrieb ihre Geschichten so, wie sich jeder, sie selbst eingeschlossen, Liebesbeziehungen wünscht: Angefangen mit einer alles verändernden schicksalhaften Begegnung. In der Mitte ein kleines Drama und schließlich ein herzerwärmendes Happy-end. Die Verkaufszahlen gaben ihr recht.
Und nun war Charlotte plötzlich nicht mehr zufrieden. Sie wollte eine neue Reihe herausbringen. Und sie würde Anne gerne dabeihaben. »Es wird höchste Zeit, einmal etwas anderes zu versuchen. Dein Liebeskarussell wiederholt sich ständig und es hat an Ausdruckskraft verloren. Deine Geschichten, liebe Anne, das sage ich dir nur, weil ich dich als Mensch und Autorin sehr schätze, mutieren zum Einheitsbrei. Das ist mehr als schade, denn du kannst schreiben. Anders schreiben.« Vielen Dank für die Blumen, denkt Anne noch im Nachhinein gekränkt. Was soll auf einmal dieses Gemäkel? Warum lässt Charlotte sie nicht einfach in Ruhe, und es kann alles so bleiben wie es ist. Sie hasst Veränderungen.
»Da bin ich wieder«, hört sie Tomkes
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