Die Pension am Deich: Frauenroman
ihr gedacht? Linda Loretta ist neidisch auf ein langweiliges Ehepaar. Womit sie richtig liegen würde. Anne hätte nichts gegen ein bisschen langweiliges Glück einzuwenden. Die Vertrautheit einer Partnerschaft ist nicht langweilig. Sie ist eine Heimat. Eine, die sie gerne hätte. Was soll daran falsch sein? Eigenartig, das Bedürfnis nach Geborgenheit wird so gerne mit Schwäche assoziiert. Dafür die Unfähigkeit, eine Beziehung aufzubauen, mit Stärke. Sie wird als autark bleiben wollen, als Drang nach Freiheit verstanden. Freiheit. Von wegen. Anne ist es leid, Spielball ihrer Sehnsucht zu sein. Dafür verbraucht sie viel Kraft. Kraft, die sie lieber in ihr Leben investieren würde.
Das Schlimmste: Das Ziel ihrer Träume heißt noch immer Kees-Jan. Das ist doch nicht normal. Liebe ist eine Psychose von zwei Jahren. Höchstens. Das ist eine von Kees-Jans Lebensweisheiten. Und was macht sie? sie hat ihn nach so vielen Jahren noch immer nicht aus ihrem Leben verbannt. Sie hat die Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft nie tief genug vergraben. Ist das nun die ganz große Liebe oder eine richtig ernsthafte, unheilbare Psychose? Die Frage bleibt unbeantwortet. Anne spricht mit niemandem mehr über ihre Gefühle. Sie sind für andere nicht nachzuempfinden. Nicht mehr. Das hat sie zum Glück begriffen. Die Tatsachen sprechen zu prägnant dagegen. Ihr Angebeteter ist verheiratet und hat noch eine Tochter bekommen. Das hat Anne sehr wehgetan. Aber dann hat sie die neue Frau samt Kind in Gedanken einfach beiseite geschoben. Als würde es sie nicht geben. Sie sind unwichtig. Eine Phase, hat sie sich eingeredet. Kees-Jan würde sich nicht lange festhalten lassen. Das ist seine Natur. Diese Weglauftendenz können selbst Ehering und erneuter Nachwuchs nicht auf die Dauer einschläfern. Da ist sich Anne sicher. Erst vor ein paar Wochen hat er ihr Luftschloss bestätigt. Er hat angerufen. Zielgenau zu einem Zeitpunkt, an dem sie gerade mühsam einen erträglichen Abstand zu ihm aufgebaut hatte. Als hätte er die zunehmende Entfernung zwischen ihnen gespürt. Wie immer sagte er nur: »Ich bin’s.« Anne würde seine Stimme unter Millionen anderen heraushören, aber es ärgert sie, dass er davon ausgeht. Jedes Mal nimmt sie sich vor, kühl und abwartend zu bleiben. Freundlich nachzufragen, wer am Apparat ist. Doch jedes Mal sagt sie nur: »Ich weiß.«
Ihre Gespräche laufen ebenfalls nach einem vertrauten Muster ab. Erst fragt er sie, wie es Lisette geht. Und Anne berichtet es ihm. Sie serviert ihm die Tagesabläufe seiner Tochter wie auf dem Silbertablett und schmückt sie mit netten Anekdoten aus. Die saugt sich Anne nicht selten spontan aus den Fingern, nur um ihr Leben für ihn attraktiver erscheinen zu lassen. Einen Nerv bei ihm zu treffen und so etwas wie späte Reue zu erzeugen. Vielleicht sogar Sehnsucht. Danach erzählt Kees-Jan seine persönlichen Probleme, als wäre es das Normalste auf der Welt, dass Anne sich dafür interessiert. Leider tut sie es.
Beim letzten Telefonat gestand er ihr, er spüre in sich ein diffuses Sehnen, eine Traurigkeit. Anne hatte vor Spannung die Luft angehalten. Für einen glückstaumelnden Augenblick. Aber sein Sehnen galt nicht ihrer Person. Sondern einzig der Form ihres Lebens. Ihr Privileg, sich die Zeit nach ihren ureigensten Bedürfnissen einzurichten. Ihren Vorteil, eine fast erwachsene Tochter zu haben, die seiner Meinung nach keine Energien mehr blockiert. Ihrer Chance, schreiben zu können, wann und wo sie will. Ohne eine aufgezwungene Routine einhalten zu müssen, die jede Kreativität erstickt. Er wäre gezwungen, Tag für Tag seinen persönlichen Freiraum, die Luft zum Atmen, neu abzustecken und zu erkämpfen. Für diesen familiären Alltagswahnsinn würde er seine Kraft zum Malen verbrauchen. Er fühle sich vollkommen leer und gleichzeitig zum Überlaufen gefüllt. Die Bilder in ihm warten nur darauf, gemalt zu werden. Immer ungeduldiger. Aber er brächte sie nicht auf die Leinwand. Das tägliche Planungskorsett mache ihn tot. Anne hat seine Vorstellung von ihrem Leben kommentarlos stehen lassen. Sie hat nicht zugegeben, wie viel sie die von ihm gepriesene Freiheit kostet. Dass die angeblich völlig selbstständige Tochter noch immer Nahrung, Kleidung und Zuwendung braucht. Und zwar dann, wenn es Lisette in den Kram passt. Anne hat auch nicht eingestanden, dass sie ihre Tage selten als spannend, sondern oft als einsam empfindet. Auf die Art von Neugierde, die Kees-Jan
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