Die Pension am Deich: Frauenroman
inspiriert, könnte sie gerne verzichten. Sie würde liebend gerne wissen, mit wem sie den Abend verbringt und mit wem sie am Morgen aufwacht. Das würde ihr nicht die Luft zum Atmen nehmen. Ganz im Gegenteil. Ihre Sehnsucht macht sie nicht kreativer, sie lässt sie im Kreis denken. Aus dem Grund ähneln sich ihre Romane zunehmend. Das ist Anne auch ohne Charlottes Kritik durchaus bewusst. Aber bislang kam Linda Loretta bei den Leserinnen bestens an. Nicht nur bei ihnen, gibt Anne wehmütig zu. Auch bei mir. Ich habe mich in den vertrauten Abläufen geborgen gefühlt. Damit soll nun plötzlich Schluss sein? Weibsbilder aus Fleisch und Blut sind gefragt. Die patente Frau von nebenan, mit der man sich identifizieren kann. Wo finde ich die? »Überall«,hat Charlottegeantwortet . »Beim Einkaufen, in der Bahn, ach, Anne, ich bitte dich. Ich brauche dir dasdoch nicht zu erklären.« Doch, denkt Anne. Doch. Ich bin ein Einsiedlerkrebs. Schon vergessen?
Warum schickt Charlotte sie vor die Tür und lässt sie nicht einfach in Ruhe weiterschreiben? Am liebsten in einem Bett mit Baldachin. Über die Vorstellung muss Anne selbst lachen. Immerhin. Ich verbringe zum ersten Mal spontan und ganz allein ein paar Urlaubstage in einer Pension. Dabei lerne ich unausweichlich Menschen kennen. Frauen. Vielleicht sogar meine zukünftige Protagonistin. Zum Beispiel meine Wirtin. Sie lebt auch allein. Nicht freiwillig. Sie ist Witwe. Ihr Verhalten weist eine ungeheure Spannbreite auf, ihre Kleiderwahl weniger. Trockener Humor, eine direkte Art. Eben nordisch herb. Und doch schwer einzuschätzen. Der unvorteilhafte kurze Haarschnitt. Den hat sie erst seit gestern. Das hat sie Anne, durch deren prüfenden Blick verunsichert, verraten. Den Grund dafür hat sie allerdings verschwiegen. Ihrem verstorbenen Mann kann sie ihr Haar, einem uralten germanischen Ritual folgend, nicht geopfert haben. Der ist seit fast drei Jahren tot. Das hat sie ihr auch erzählt.
Anne konzentriert sich. Welche Geschichte könnte sie mit diesen Eckdaten konstruieren? Eine attraktive Frau Ende vierzig. Ihr Mann wird – plötzlich und unerwartet – aus dem Leben gerissen. Sie haben eine harmonische Ehe geführt, obwohl er ein Patriarch war. Im liebenvollen Sinne. Er hat Tomke zu viel abgenommen, sie unselbstständig gemacht. Nun steht sie ohne ihn da. Kein Beruf. Die Kinder schon aus dem Haus. Es bleibt ihr nur die Frühstückspension. Aber da ist der beste Freund des Verstorbenen. Er hat sich gleich nach dessen Tod um die anfallenden Formalitäten gekümmert. Die Beerdigung. Er hält sogar eine feierliche Grabrede für die Angehörigen. Er begleitet Tomke in diesen schweren Tagen. Chauffiert sie. Ist für sie da. Nach der Bestattung, nach den Beileidsbekundungen beginnt die Normalität. Dann kommen erst die Einsamkeit und die Trauer. Dieser alte Freund steht ihr weiterhin zur Seite. Vielleicht ermutigt ihn sogar dessen eigene Frau, Tomke zu helfen. Die Variante wäre noch dramatischer. Okay, er besucht sie regelmäßig. Er findet tröstende Worte, hört ihr lange zu. Er hält ihre Hand und irgendwann – liegt sie in seinen Armen. Trauer hat viel Dynamik. Die beiden haben diese Energie mit Liebe verwechselt. Für eine kurze Zeit. Bis der Mann die Illusion erkennt und sich trennt. Zurück geblieben ist Tomke, die an eine Zukunft geglaubt hat. Das klingt gar nicht mal so schlecht. Arbeitstitel: ›Der beste Freund meines Mannes‹.
Anne bleibt in Höhe des Kurmittelhauses stehen. Aber wie soll sie die Story enden lassen? Sicher nicht mit abgeschnittenen Haaren und Einsamkeit. Das Leben einer Pensionswirtin, die sich nur die Geschichten ihrer Gäste anhört und keine eigenen mehr hat. Nein, viel zu depressiv. »Ein bisschen mehr Perspektive darf’s schon sein« , hört sie im Geiste Charlottes Stimme. Und sie hat recht, denkt Anne. Zu düster, die Aussichten. Außerdem ist es unklug, mit dem Ende zu beginnen. Abgesehen davon sind die Gedanken um das nächste Manuskript Zukunftsmusik. Erst muss sie ihr aktuelles abschließen.
Annes Blick fällt auf die Telefonzelle vor dem Kurmittelhaus. Lisette, fällt ihr ein. Sie hat sich nicht gemeldet. Also wird Anne noch einmal versuchen, sie zu erreichen.
Dieses Mal wird der Hörer gleich abgenommen. Als sie die Stimme ihrer Tochter hört, ist Anne sofort klar, dass sie einen Fehler gemacht hat. Sie hätte nicht erneut anrufen sollen. Lisette hat die Telefonnummer der Pension, und sie hat auf dem Band des Anrufbeantworters
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