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Die Pension am Deich: Frauenroman

Die Pension am Deich: Frauenroman

Titel: Die Pension am Deich: Frauenroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sigrid Hunold-Reime
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die Nachricht, dass es ihrer Mutter gut geht. Das hätte gereicht. Lisette hat den Freiheitsdrang ihres Vaters geerbt. Wenn so etwas vererbbar ist. Anscheinend ist es das.
    »Ich habe gerade an dich gedacht und bin zufällig an einer Telefonzelle vorbeigekommen. Ich wollt mich nur mal melden«, redet Anne wild drauflos. Warum entschuldige ich mich, denkt sie verärgert. Was ist schlimm daran, wenn ich die Stimme meiner Tochter hören will?
    Prompt antwortet Lisette: »Hallo, Mum, das ist okay. Du brauchst dich nicht dafür zu entschuldigen. Schön, dass du dich meldest. Geht’s dir gut?«
    Anne muss schlucken. Das war eigentlich ihr Text. Das wollte sie Lisette fragen.
    »Ja, mir geht es prima. Die Seeluft wirkt gemeinsam mit dem Cortison. Ich habe eine nette Pension erwischt und jetzt erkunde ich den Ort.«
    »Hört sich super an.«
    »Ja, das ist es. Und wie geht es dir?«
    »Ich habe Kopfschmerzen. Zum Glück haben wir heute erst nachmittags Unterricht.«
    Die Schlüsselworte: Kopfschmerzen und Unterricht lösen in Anne einen Automatismus aus, als wäre ein Knopf für mütterliche Fürsorge gedrückt worden. Ohne Nachdenken, fragt sie wie aus der Pistole geschossen: »Hast du ausreichend getrunken?«
    Dabei weiß sie genau, das ist ihre Standard-Gesprächs-Zerstörfrage.
    »Ach, Mum, hör auf. Ich trinke genug. Mit genug Flüssigkeit lassen sich auch nicht alle Probleme lösen«, antwortet Lisette genervt.
    »Was für Probleme?«, hakt Anne hellhörig nach.
    »Oh, echt. Bei dir muss man so was von aufpassen. Du legst jedes Wort auf die Goldwaage. Es ist alles okay, verstanden?«
    »Und du weißt, dass ich Andeutungen hasse, und mit dem Trinken, das meine ich nur gut. Ich vergesse es selbst oft genug und bemerke es erst, wenn ich friere oder Kopfweh bekomme.«
    »Ich weiß«, geht Lisette versöhnlich auf ihr Friedensangebot ein. »Mum, ich habe jetzt wirklich keine Zeit. Marie und ich wollen noch einkaufen. Wir müssen los. Viel Spaß und – bis Montag. War doch Montag, oder?«
    »Ja, bis Montag«, erwidert Anne überrumpelt. Auf der einen Seite ist sie besänftigt, Lisette hat nicht vergessen, wann ihre Mutter wieder nach Hause kommt. Auf der anderen wurmt Anne der Fingerzeig: Bis dahin keine Anrufe mehr! Das war vollkommen unnötig. Anne hätte ohne diesen Wink die Grenzen eingehalten. Im Gegensatz zu ihrer Tochter. Die wird ihren Bedarf nach mütterlicher Zuwendung an ihrer aktuellen Gefühlslage auspendeln. Lisette wehrt sich im gleichen Maße gegen ihre Fürsorge, wie sie deren Schutz sucht und liebt. Sie kann nur Grenzen setzen, nicht einhalten. Genau wie Kees-Jan. Aber pubertierenden Kindern kann man diese Inkonsequenz nachsehen, erwachsenen Männern nicht. Das weiß Anne und verzeiht ihm seine Unschlüssigkeit immer wieder.
    Im Ortskern haben sie auf einem großzügig angelegten Rondell leuchtende Osterglocken, Primeln und Stiefmütterchen gepflanzt. Eine prächtige Insel aus Frühlingsfarben. Zwischen den umliegenden Geschäften entdeckt Anne sogar einen kleinen Supermarkt. Wunderbar. Mit der Möglichkeit, Lebensmittel einkaufen zu können, hatte sie erst später am Ortsausgang gerechnet. Sie beschließt, gleich ein paar Vorräte zu besorgen und in die Pension zu bringen. Danach kann sie immer noch spazieren gehen.
    Am Kühlregal sortieren zwei junge Frauen Nachschub in die Regale. Anne bleibt neben ihnen stehen und begutachtet das Joghurtangebot. Die beiden plaudern ungeniert weiter, ohne sie zu beachten.
    »Ich muss die drei Tage im Juli unbedingt freibekommen. Sonst geht hier eine Bombe hoch.«
    »Was ist denn daran so megawichtig?«
    »Wir wollen nach London. Kalle hat vor einer Woche gebucht. Ich gestern. Das war höchste Zeit. Stell wir vor, gestern war es schon zwanzig Euro teurer wie bei Kalle. So fix geht das.«
    Als bei Kalle, korrigiert Anne in Gedanken. Sie legt einen Heidelbeerjoghurt in den Wagen und schiebt weiter zum Käse- und Brotangebot.
    An der Kasse muss Anne zweimal hinschauen, um sich zu vergewissern: das ist keine Halluzination. Die stattliche Kassiererin füllt ihren gesamten Sitzbereich aus. Pechschwarz gefärbtes Haar. Es ist hochtoupiert und im Nacken zusammengesteckt. Das sieht so künstlich aus, als hätte sie sich eine Karnevalsperücke aufgesetzt. Das Alter der Frau ist schwer zu schätzen. Irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Das breite Gesicht ist zu dick überschminkt. Sie trägt eine grüne, metallisch glänzende Bluse. Anne muss sich zusammenreißen, um sie nicht

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