Die Perlenzüchterin
im Freien – mit Ausnahme des einen Mals, als man sie als »Wache« am Lager zurückgelassen hatte. Sami hatte sich daran gewöhnt, dass Palmer zu beinahe jeder Tageszeit Dudelsack spielte, bevorzugt am frühen Morgen und Abend. Wenn Palmer nicht gerade den Dudelsack malträtierte oder klassische Melodien summte und dabei ein imaginäres Orchester dirigierte, redete er. Nie war er um ein Thema verlegen.
Er sprach über seine schottische Mutter – »eine keltische Märchenkönigin« – und ihre Familie; über das Aufwachsen bei einem dickschädeligen Aussie-Vater. »Ich wuchs mit Märchen, Legenden und Limericks auf. Das ist einer der Gründe, weshalb ich die Geschichten und die Überlieferungen der Aborigines mag. Die Wissenschaften des weißen Mannes sind lange nicht so poetisch wie deren Geschichten«, sagte Palmer zu Sami.
»Zum Beispiel?«
»Sie erzählen mir, dass die Höhlen, die wir gesehen haben, einst Wolken waren. Sie sind jetzt zu Wolkensteinen geworden, um das Innere der Höhlen zu schützen.«
»Sind die Felsbilder eigentlich dein Spezialgebiet?«
»Eigentlich nicht. Aber das ist das Schöne an der Anthropologie: Unter diesen Hut kann man fast alles bringen!«
»Du kannst also Wesen, Wissenschaft und Kultur des Menschen betrachten«, meinte Sami. »Mein Ziel ist es, Kunst zu studieren, das heißt, zeitgenössische und alte Kunst.«
Sami konzentrierte sich auf den unebenen Weg, und Palmer betrachtete ihr Profil. »Und dir ist nie in den Sinn gekommen, Felsritzungen in einer entlegenen Höhle könnten als bedeutsame Kunst gelten?«
»Dr. Palmer, stellen Sie mich auf die Probe?«, fragte sie in übertrieben defensivem Tonfall. Er musste lächeln. Nachdenklich fuhr sie fort: »Ein berechtigter Einwand, natürlich. Ich wünschte, du wärst einer meiner Dozenten gewesen.« Nach einer kurzen Pause sagte Sami: »Ich muss zugeben, dass ich diese sehr rohen, primitiven Höhlenmalereien und die Sonnenreliefs als außerordentlich ergreifend und beeindruckend empfunden habe.«
»Aber als Weiße können wir ihre wahre Tiefe nicht ermessen. Sicher, wir können uns Farbe und Form ansehen und über ihre Bedeutung rätseln, aber die Geschichte dahinter werden wir nie kennen. Nur das, was uns diejenigen sagen, die Bescheid wissen«, entgegnete Palmer lakonisch. Sami warf ihm einen kurzen Blick zu. Er fing ihn auf und zuckte mit den Achseln. »Man kann nicht hier draußen leben, ohne sich der Bedeutung der überlieferten Geschichten und Glaubensüberzeugungen bewusst zu werden. Für Bridget, die alten Männer und Rosie Wallangou gehört das zum täglichen Leben. Bei ihnen allen schnappe ich kleine Fetzen Wissen auf.«
Sami wusste durch ihre Mutter von ihrer Verwandten Rosie und hatte Fotos von ihr gesehen. Rosie hatte Sami sogar geschrieben. Sie nahm an, dass Palmer nicht viel über ihre Herkunft wusste, doch vorsichtshalber gab sie ihrem Gespräch eine andere Richtung.
»Es mit eigenen Augen zu sehen, ändert wirklich alles«, sagte Sami. Sie versuchte immer noch zu begreifen, warum die Felsmalereien und –reliefs sie so tief beeindruckt hatten. »Ich habe im westlichen Sinne nach spirituellen Elementen in der Kunst gesucht. Abbildungen heiliger Figuren, Symbole, Kultstätten und so weiter. Die Höhlen sind sehr spirituelle Orte, und trotzdem kennen nur wenige Menschen ihre Lage oder ihre Bedeutung.« Ihr war klar, dass sie sich noch einmal eine Zeit lang einfach in die Höhle setzen und die Malereien auf sich wirken lassen musste, um auszuloten, wie sie ihre Arbeit angehen wollte.
»Es hängt alles zusammen. Die Schöpfung von Kunst – obwohl das eigentlich nicht die richtige Interpretation ist. Diese Bilder wurden nicht als Kunst in dem Sinne, wie wir sie verstehen, geschaffen. Sie sind eng verknüpft mit dem Land, den Menschen, ihrer Geschichte, sie sind alle eins.«
»Und wie soll ein Außenstehender je die Tiefe des kulturellen Ausdrucks der Aborigines verstehen? Man fühlt sich als Eindringling.«
»In der Aborigine-Kunst gibt es immer noch eine Schicht darunter, eine innere Geschichte, einen verborgenen Herzschlag. Vielleicht sogar noch mehrere Schichten. Sogar ein Typ, der ein unfertiges Bild für ein paar Kröten verkauft, damit er sich was zu trinken besorgen kann, glaubt daran. Wenn du in Broome bist, sprich doch mit Rosie in der Little Street Gallery. Sie ist eine Einheimische und weiß viel.«
»Was wir hier draußen gesehen haben, ist ganz offensichtlich sehr, sehr alte Kunst. Das
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