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Die Perserinnen - Babylon 323

Die Perserinnen - Babylon 323

Titel: Die Perserinnen - Babylon 323 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elfriede Fuchs
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wie Wunden, wo Teile
davon abgestürzt waren. Der Boden rings um das Heiligtum war von einer dicken
Schuttschicht bedeckt gewesen, bis der König sie hatte abtragen lassen. Doch
trotz aller Zeichen des Verfalls ragte Etemenanki noch immer hoch in den
Himmel, düster und erdrückend in seiner schrecklichen Schönheit. So schien er
in jeder Hinsicht ein Symbol Babylons zu sein.
    „Wir haben den König nicht vergiftet“, sagte der alte Mann
unvermittelt. Paruschjati zuckte zusammen. „Was die Marduk-Priester betrifft,
hast du natürlich recht. Sie haben das Geld für den Wiederaufbau von Etemenanki
eingesteckt. Als der König wieder nach Babili zu kommen gedachte, bekamen sie
es mit der Angst zu tun. Daher das alberne Getue, um seine Rückkehr zu
verhindern.“
    „Du gibst also zu, dass die Priester ein Motiv hatten, dem
König nach dem Leben zu trachten?“
    „Nein, das hatten sie nicht!“ Der Seher stellte den Krug
wieder ab. „Die Sache war längst ausgestanden. Der König war wütend auf die
Priester, das stimmt, und er hat sie hart bestraft. Auch wenn er sie
gnädigerweise nicht hat hinrichten lassen, wie er es mit vielen anderen
korrupten Halunken gemacht hat. Die Priesterschaft ist also heilfroh, so
glimpflich davongekommen zu sein. Sie hat keinen Grund, dem König zu schaden,
im Gegenteil, meine Kollegen haben sogar versucht, ihn zu schützen. Erinnerst
du dich an den Vorfall bei dem Schiffsrennen?“
    „Der Fremde auf dem Thron.“ Natürlich erinnerte sie sich.
Auch an die Furcht, den das Vorkommnis nicht nur bei ihr selbst ausgelöst
hatte.
    „Ein Missverständnis. In Wirklichkeit handelte es sich um
ein altes babylonisches Ritual.“
    „Meinst du das Fest, bei dem Sklaven und Herren die Rollen
tauschen und bei dem einst sogar ein Sklave die Stelle des Königs einnahm?
Meine Nichte hat mir davon erzählt, aber soweit ich weiß, findet es erst in
zwei Monaten statt.“
    „Ach, das.“ Der alte Mann machte eine wegwerfende Geste.
„Das ist immer ein großer Spaß für das einfache Volk, vor allem natürlich für
die Sklaven. Aber das Ritual, von dem ich spreche, hat eine andere Bedeutung.
In alten Zeiten wurde es durchgeführt, wenn die Vorzeichen Gefahr für den König
ankündigten. Dann bestimmten die Priester einen Scheinkönig, meistens einen
Verrückten oder Verbrecher oder sonst jemanden, der entbehrlich war. Er musste
den Platz des Königs einnehmen, damit das Unheil ihn an dessen Stelle traf.
Sobald die Gefahr vorüber war, wurde der Scheinkönig getötet, und der richtige
König kehrte auf den Thron zurück.“
    „Du meinst also, die Priester hatten dieses Ritual im Sinn,
als sie den Verrückten anwiesen, sich auf den Thron zu setzen?“, fragte
Paruschjati nachdenklich. „Warum wusste niemand davon?“
    „Weil sie es mal wieder vermasselt haben! In ihrer Eitelkeit
haben die Priester es versäumt, sich mit den Sehern des Königs abzusprechen.
Also wurde der Scheinkönig vom Thron gezerrt. Dadurch erreichten die Priester
das Gegenteil dessen, was sie eigentlich beabsichtigt hatten. Meine geschätzten
Kollegen mögen korrupte Idioten sein, aber diesmal haben sie es zur Abwechslung
einmal gut gemeint.“ Der Seher kicherte meckernd und schielte zu seinem Krug.
    „Warum hätten die Chaldäer versuchen sollen, den König zu
schützen?“, fragte Paruschjati, noch nicht überzeugt.
    „Aus Eigennutz, warum sonst? Der König wollte unsere Stadt
zur Hauptstadt seines Reiches machen. Er hätte ihr ihre alte Größe
zurückgegeben und sie wieder zum Mittelpunkt der Welt gemacht. Sogar Etemenanki
wollte er wieder aufbauen, die Treppe der Götter. Sieh noch einmal zu dem Turm
hinüber. Was siehst du?“
    Inzwischen war es fast völlig dunkel geworden. Als
Paruschjati noch einmal zu dem Stufenturm hinübersah, musste sie sich
anstrengen, um seine düstere Silhouette vor dem fast ebenso finsteren Himmel
ausmachen zu können. Doch dann, als sich ihre Augen eingewöhnt hatten, stockte
ihr Atem. Sie wandte den Blick ab und sah wieder hin, doch das Bild hatte sich
nicht verändert. Winzige Lichtpunkte glühten auf den Treppen, die von Plattform
zu Plattform führten – als ob auf jeder der unzähligen Stufen eine Lampe
flackerte. Die Lichterkette schienen geradewegs in den Himmel zu führen. Und
noch etwas erstaunte Paruschjati: In der Dunkelheit wirkte Etemenanki wie
unversehrt, die oberen Stockwerke schimmerten blau von den glasierten Ziegeln,
mit denen sie einst teilweise verkleidet gewesen waren. So

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