Die Perserinnen - Babylon 323
und präsentierte ein Lächeln
mit vielen Zahnlücken, das ihr wenig vertrauenerweckend erschien. „Königin
Puruschatu“, krächzte er mit seiner heiseren Stimme und fügte hinzu: „Scha
Ekalli“; was auf Babylonisch so viel wie „Herrin des Palasts“ bedeutete. „Ich
fühle mich von deiner Anwesenheit geehrt. Sei mein Gast!“ Mit theatralischer
Geste deutete er neben sich auf den Boden.
Der Alte hatte persisch gesprochen, doch er war vermutlich
Babylonier. Obwohl er nicht so aussah: Klein und verschrumpelt, mit Buckel und
langem, ungepflegtem Bart, erinnerte er Paruschjati eher an den nackten Weisen,
der dem König aus Indien gefolgt war. Die Kleidung es Alten war ungepflegt, und
er selbst roch stark nach dem babylonischen Palmwein, der in einem abgewetzten
Tonkrug an seiner Seite stand. Paruschjatis Dienerinnen legten eine Decke auf
den Boden, und sie setzte sich. Nur gut, dass Mannuja es nicht die Leiter
heraufgeschafft hatte.
„Etemenanki!“ Der alte Seher (oder was immer er war) zeigte
mit seinem knochigen Finger auf den Stufenturm. „Das bedeutet ‚Fundament des
Himmels und der Erde‘, wusstest du das? Und dieses Gebäude hier, auf dessen
Dach wir uns befinden, wird Esagila genannt, ‚Haus mit erhobenem Haupt‘. Dies
sind die beiden heiligsten Orte, die es auf der Erde gibt.“
„So?“ Warum dachten nur immer alle Priester, ausgerechnet
ihr Tempel sei der heiligste von allen?
„Die Griechen nennen unsere Stadt Babylon, bei euch Persern
heißt sie Babiru. Aber ihr wirklicher Name ist Babili. Kennst du seine
Bedeutung?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Er bedeutet ,Pforte der Götter‘. Denn hier steigen die
Götter vom Himmel zur Erde herab, auf den Stufen von Etemenanki. Hier haben sie
sich bei Anbeginn aller Zeit versammelt, um Marduk zu ihrem König zu wählen,
nachdem er Tiamat, die Göttin des Salzwasserozeans, und ihre elf Ungeheuer
besiegt hatte. Esagila ist Marduks Palast, der Mittelpunkt der Welt, wo Erde,
Himmel und Unterwelt aufeinandertreffen, verbunden durch eine spirituelle
Achse. Und so, wie Marduk König über die Götter des Himmels und der Unterwelt
ist, so ist der König von Babili zugleich Herrscher über die Erde.“
Paruschjati zuckte die Achseln. „Es gibt keinen König von
Babylon mehr. Nicht, seit Großkönig Kurusch die Stadt erobert hat. Danach waren
die Könige von Parsa die Herren der Erde.“
„Richtig.“ Der alte Seher griff nach seinem Krug. „Doch als
Kurasch Babili eingenommen hatte, zog er auf der Prozessionsstraße durch das
Ischtar-Tor zu Esagila. Dort ergriff er Marduks Hand, nach unserem uralten
Ritus. Dadurch wurde er zum rechtmäßigen König von Babylon. Auch König
Aliksandar hat Marduks Hand ergriffen, auch er ist nun König von Babylon –
Schar Babili. Und damit auch Schar Matati, König der Länder, sowie Schar
Kischati, König der Welt.“
Paruschjati blieb unbeeindruckt. „Babylon ist schon lange
nicht mehr der Mittelpunkt der Welt. Ich lebe im Palast, aber selbst ich habe
bemerkt, dass viele Bauwerke in der Stadt allmählich zerfallen. Die Menschen
ziehen fort, ganze Viertel sind bereits unbewohnt. Draußen auf dem Land
verkommen die Deiche und Kanäle, im Süden breiten sich Sümpfe aus, während
andere Teile des Landes zur Wüste werden.“
„Es stimmt, unsere Stadt befindet sich seit vielen Jahren im
Niedergang.“ Der Seher genehmigte sich einen tiefen Schluck aus dem Krug und
machte sich dabei nicht die Mühe, ein Schlürfen zu vermeiden. Der Geruch nach
starkem Palmwein wehte zu Paruschjati herüber. „Schau dir Etemenanki an – was
ist nur aus ihm geworden?“
Paruschjati fixierte den Stufenturm, der sich scharf vor dem
schnell dunkler werdenden Himmel abzeichnete. Er schien zu gewaltig, um von
Menschenhand geschaffen zu sein. Sie hatte viele gewaltige Bauwerke gesehen,
Paläste und Tempel, die Pyramiden Ägyptens und auch die Stufentürme anderer
babylonischer Städte. Nichts konnte sich mit Etemenanki vergleichen.
Vor hundertsechzig Jahren hatte Großkönig Kschajarscha nach
einem Aufstand der Babylonier die große Freitreppe zerstört, die zu dem Turm
hinaufführte. Seitdem war das Bauwerk, das größtenteils aus ungebrannten
Lehmziegeln bestand, dem langsamen Zerfall preisgegeben. Trotz der großen
Entfernung und der fortschreitenden Dämmerung konnte Paruschjati erkennen, dass
der dunkle Asphaltmantel an vielen Stellen abgeplatzt war. Verwitterte Ziegel
kamen darunter zum Vorschein. Lücken im Mauerwerk klafften
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