Die Pest zu London
schwächer besucht wurden, als es zu anderen Zeiten zuvor der Fall war. Das muß man aber von den Menschen in London sagen, daß während der ganzen Zeit der Pest die Kirchen oder Gebetshäuser niemals ganz geschlossen wurden und daß die Leute nicht nachließen, sich zur öffentlichen Verehrung Gottes einzufinden, ausgenommen nur, wenn in einer Pfarre die Seuche mit ganz besonderer Heftigkeit wütete, und dann auch nur für die Zeit, die das anhielt.
In der Tat war nichts erstaunlicher als zu sehen, mit welcher Beherztheit die Leute zum öffentlichen Gottesdienst gingen, auch noch zu der Zeit, in der sie sich bei jedem anderen Anlaß fürchteten, aus dem Hause zu gehen; dies meine ich für die Zeit, bevor die Verzweiflung, von der ich sprach, sie überkam.
Es war ein Beweis, wie außerordentlich stark die City zur Zeit der Seuche bevölkert war, obwohl doch eine so große Zahl Menschen gleich beim ersten Alarm aufs Land gezogen war und so viele später in die Wälder flohen, als das ungemeine Anwachsen der Seuche ihnen immer mehr Schrecken einflößte.
Denn wenn man an den Sabbat-Tagen in die Kirche kam und die Menschenfülle sah, die sich dort drängte, und besonders in den Stadtteilen, wo die Pest nachgelassen hatte oder noch nicht 265
ihren Höhepunkt erreicht hatte, da konnte man nur staunen.
Aber darauf werde ich gleich noch zu sprechen kommen.
Vorläufig möchte ich zu dem Punkt der gegenseitigen Anstek-kung zurückkehren und zwar zum Anfang, wo die Leute noch keine richtige Vorstellung hatten, wie die Ansteckung von einem zum andern vor sich ging. Da hielt man sich nur vor denen zurück, die akut erkrankt waren, also wenn einer eine Kappe auf dem Kopf trug oder Tücher um den Hals, wie es die taten, die dort Geschwülste hatten. Denn das war ja auch abschreckend. Aber wenn wir einen Herrn sahen, der tadellos gekleidet war, die Handschuhe in der Hand und den Hut auf dem Kopf und das Haar glatt gekämmt trug, da hatten wir nicht die geringste Befürchtung, und lange Zeit hindurch pflegten die Leute uneingeschränkten Umgang, besonders mit ihren Nachbarn und Bekannten. Aber als die Ärzte uns versicherten, die Gefahr komme ebenso von den Gesunden, das heißt, von den scheinbar Gesunden, wie von den Kranken und daß oft gerade diejenigen, die sich vollkommen unbetroffen fühlten, mit dem schlimmsten Ausgang rechnen mußten – als dies allmählich von den Leuten soweit verstanden wurde, daß man sich ge-meinhin danach richtete und auch die Gründe einsah, da fingen sie an, sage ich, gegen jeden mißtrauisch zu werden, und eine ganze Menge von Leuten schloß sich ein, um überhaupt nicht mehr hinaus und unter Menschen zu gehen, und wenn einer sich draußen mit Krethi und Plethi abgegeben hatte, so ließen sie ihn nicht in ihr Haus, oder sie ließen ihn nicht nahekommen, jedenfalls nicht so nahe, daß er in die Reichweite ihres Atems oder ihres Riechens kam, und wenn sie gezwungen waren, mit Fremden aus der Entfernung zu sprechen, so pflegten sie stets von Vorbeugemittel im Mund oder in ihren Kleidern zu haben, um die Ansteckung abzuwehren und fernzuhalten.
Es muß zugegeben werden, daß die Leute, als sie erst diese Vorsichtsmaßnahmen ergriffen, weniger der Gefahr ausgesetzt 266
waren, und die Seuche brach in diese Häuser nicht mit dem Ungestüm ein, wie sie es vordem bei anderen getan hatte; und Tausende von Familien wurden auf diese Weise gerettet, wenn man so sagen darf, ohne der Fügung der Vorsehung etwas streitig zu machen.
Aber in die Köpfe der Armen etwas hineinzuhämmern war unmöglich. Ihre Gemütsart blieb so impulsiv, wie sie immer war. Groß war ihr Geschrei und Gezeter, wenn es sie ergriffen hatte, aber solange sie sich wohl befanden, waren sie bis zum Unfug leichtsinnig gegen sich selbst, töricht und unbelehrbar.
Wo sie eine Anstellung finden konnten, dort griffen sie bei jeder Art von Arbeit zu, und wenn sie noch so gefährlich und ansteckungsbringend war; wenn man ihnen zuredete, dann pflegten sie zu antworten: »Man muß Gottvertrauen haben; wenn es mich trifft, dann sollte es so sein, und mit mir ist eben Schluß«, und ähnliches. Oder so: »Was soll ich denn tun? Ich kann nicht verhungern. Ich mag ebensowohl die Pest bekommen wie Hungers sterben. Ich habe keine Arbeit mehr; was bleibt mir übrig? Ich muß dies tun oder betteln gehen.« Angenommen es handelte sich um das Totenbestatten oder um Krankenwärterdienste oder um das Bewachen der befallenen Häuser, all das war
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