Die Pest zu London
nackt, aus seinem Hause oder vielleicht seinem Bette auf die Straße kommt, von Harrow Alley her, einem belebten Kreuzungs- und Sammelpunkt von Gäßchen, Hinterhöfen und Durchgängen an der Butcher Row in Whitechapel – ich sage, was könnte ergreifender sein, als zu sehen, wie dieser Mann auf die offene Straße kommt, singend und tanzend herumrennt und tausend ausgelassene Gesten macht, während fünf oder sechs Frauen und Kinder hinter ihm herlaufen, heulend und ihn um des Herrn willen anflehen zurückzukommen, und die Hilfe anderer erbitten, ihn zurückzubringen, aber alles vergebens, da niemand wagt, Hand an ihn zu legen oder ihm nahe zu kommen?
Dies war ganz ungemein schmerzlich und quälend für mich, der ich das ganze von meinem Fenster aus beobachtete; denn die ganze Zeit über befand sich der arme geplagte Mensch in akuter, äußerster Schmerzenspein, hatte er doch, wie es hieß, zwei Geschwülste am Körper, welche man nicht zum Aufbrechen oder Auseitern bringen konnte; aber durch starke Ätzmittel, die sie ihm auflegten, hofften die Ärzte, so scheint es, sie aufzubrechen, und diese Ätzmittel hatten sie jetzt gerade angewendet, und sie brannten in seinem Fleisch wie mit heißen Eisen. Ich kann nicht mehr sagen, was aus diesem armen Kerl wurde, aber ich glaube, er tobte noch weiter in dieser Weise umher, bis er umfiel und starb.
Kein Wunder, daß der Anblick der City selbst erschreckend war. Das übliche Gedränge der Menschen auf der Straße, das auch aus unserem Viertel Zustrom erhielt, hatte aufgehört. Die 219
Börse war zwar nicht geschlossen, aber niemand ging mehr hin. Die Pestfeuer waren am Ausgehen; durch einen scharfen, heftigen Regen waren sie für einige Tage beinahe erloschen.
Aber das war nicht alles; einige der Ärzte bestanden darauf, daß sie für die Gesundheit der Bevölkerung nicht nur ohne Nutzen, sondern schädlich seien. Hierüber machten sie viel Wesens und erhoben Klage beim Lordbürgermeister darob.
Andere Mitglieder der gleichen Fakultät hingegen, und ebenso hervorragende, widersprachen ihnen und gaben ihre Gründe an, warum die Feuer nützlich waren und sein mußten, um die Heftigkeit der Seuche zu lindern. Ich kann von den Argumen-ten hüben und drüben keinen vollständigen Bericht geben; nur daran erinnere ich mich, daß die einen viel an den anderen auszusetzen hatten. Die einen waren für Feuer, aber sie müßten Holz brennen und nicht Kohle oder sogar besondere Sorten von Holz, so wie ganz besonders Föhrenholz oder Zedernholz, wegen der starken Ausdünstungen von Terpentin; andere waren für Kohle und nicht für Holz, wegen des Schwefels und Erdpechs; und wieder andere waren für keines von beiden.
Zuletzt verfügte der Lordbürgermeister, es sollten keine Feuer mehr sein und hauptsächlich aus diesem Grund, daß nämlich die Pest so unbändig sei, daß sie, wie man deutlich sehe, allen Maßnahmen trotze und nach Anwendung aller Mittel, um ihr Einhalt zu gebieten, eher anzuwachsen als abzunehmen scheine; aber freilich stammte diese Resignation der Obrigkeiten eher aus der Unmöglichkeit, irgendein Mittel erfolgreich anwenden zu können, als aus dem Widerwillen, sich in Gefahr zu begeben oder die Last und Sorge des Amtes zu tragen; denn, um ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sie setzten Leib und Leben ein. Aber nichts half; die Seuche wütete, und die Leute waren jetzt verschreckt und verängstigt bis zum Äußersten, so sehr, daß sie, wie ich sagen möchte, sich selbst aufgaben und, wie ich vorher schon erwähnte, sich ihrer Verzweiflung überließen.
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Aber man möge mir die Bemerkung gestatten, daß, wenn ich sage, die Leute überließen sich ihrer Verzweiflung, ich damit nicht das meine, was man religiöse Verzweiflung nennt, oder ein Verzweifeln an ihrem Schicksal in der Ewigkeit, sondern ich meine ihre Hoffnungslosigkeit, daß sie der Seuche entkommen oder die Pest überleben könnten, die, wie sie sahen, mit solch unwiderstehlicher Gewalt wütete, daß wirklich nur ganz wenige, die von ihr während der Höhepunktszeit im August und September erfaßt wurden, davonkamen; und was sehr eigenartig war und im Gegensatz zu dem gewöhnlichen Verlauf, den sie im Juni, Juli und Anfang August nahm, wo, wie ich berichtete, viele befallen wurden und noch viele Tage weiterlebten, bis sie dann abgingen, nachdem sie das Gift eine lange Zeit in ihrem Blut gehabt hatten: Im Gegensatz dazu starben jetzt die meisten, die während der letzten beiden Wochen im
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