Die Pest zu London
Menschen alle dem Gottesdienst beimessen würden, wenn sie jedesmal, wenn sie zur Kirche gehen, dächten, es werde das letzte Mal für sie sein.
Auch war es nicht ohne noch andere auffallende Wirkungen, räumte es doch jede Art von Vorurteil oder Gewissensbedenken hinsichtlich der Person fort, die sie auf der Kanzel fanden, wenn sie zur Kirche kamen. Es kann keinem Zweifel unterlie-gen, daß in einer so allgemeinen und schrecklichen Katastrophe mit den andern auch viele Geistliche der Pfarrkirchen umgekommen waren; und andere hatten nicht die Kraft gehabt auszuhalten, sondern waren, sowie sie einen Weg fanden 223
davonzukommen, aufs Land fortgezogen. Da dann einige Pfarrkirchen ganz unbesetzt und verlassen waren, hatten die Leute keine Skrupel, solche Reformierte, denen man ein paar Jahre zuvor kraft eines Parlamentsgesetzes, Act of Uniformity genannt, alle Einkünfte entzogen hatte, nunmehr in die Kirchen zum Predigen zu holen; auch machte der Klerus in diesem Fall keine Schwierigkeiten, deren Mitwirkung zuzulassen; die Folge war, daß viele von denen, die sie die stummgemachten Prediger nannten, bei dieser Gelegenheit ihren Mund aufgetan erhielten und öffentlich zum Volk predigten.
Hier können wir die Bemerkung machen, und ich hoffe, man wird es nicht für unangebracht halten, wenn ich es einfüge, daß die Aussicht auf den nahen Tod Menschen, die den Willen zum Guten haben, bald miteinander versöhnen würde, und daß es hauptsächlich der Bequemlichkeit, die wir im Leben haben und mit der wir diese Dinge weit von uns wegschieben, zuzuschreiben ist, daß Zwist entfacht wird, Groll gehegt wird, Vorurteile, christlicher Nächstenliebe und Einheit zum Trotz, so festgehalten und so weit getrieben werden unter uns, wie es geschieht.
Noch ein Pestjahr, und alle diese Differenzen wären beglichen; ein naher Umgang mit dem Tod oder mit Krankheiten, die den Tod androhen, würde die Galle aus unserem Gemüt abschöpfen, Feindseligkeiten unter uns beseitigen und uns dazu bringen, die Dinge mit anderen Augen anzusehen, als wir es bislang taten. Wie die Leute, die es immer mit der Kirche gehalten hatten, zu dieser Zeit keinen Anstoß daran nahmen, daß Reformierten erlaubt wurde, ihnen zu predigen, so waren die Reformierten, die mit einer ungewöhnlichen Voreingenommenheit von der Gemeinschaft der Kirche von England abgefallen waren, nunmehr einverstanden, in deren Pfarrkirchen zu kommen und sich an dem Gottesdienst zu beteiligen, dessen Form sie vorher mißbilligt hatten; aber sowie der Schrecken der Seuche nachließ, kehrten alle diese Dinge wieder in ihre weniger wünschenswerten alten Geleise zurück 224
und nahmen den Lauf, den sie immer genommen hatten.
Ich erwähne dies lediglich als historische Tatsache. Ich habe nicht im Sinn, mich zu ereifern, um eine oder beide Seiten zu einem friedlicheren Auskommen miteinander zu bewegen. Ich sehe keine Wahrscheinlichkeit dafür, daß eine solche Rede passend oder erfolgreich sein würde; die Kluft scheint eher größer zu werden, und die Tendenz geht eher auf weiteres Auseinanderrücken als auf Annäherung, und wer bin ich, daß ich von mir glauben sollte, ich sei fähig, die eine oder die andere Seite zu beeinflussen? Aber das möge man mich noch einmal wiederholen lassen: Es ist keine Frage, daß der Tod uns alle miteinander versöhnen wird; jenseits des Grabes werden wir alle wieder Brüder sein. Im Himmel, in den, so möchte ich hoffen, wir alle kommen werden, welcher Partei oder Konfession wir auch sind, werden wir weder Voreingenommenheit noch Eng-stirnigkeit finden; dort werden wir eines Glaubens und einer Meinung sein. Warum wir uns nicht einigen können, Hand in Hand zu dem Ort zu gehen, wo wir rückhaltlos ein Herz und eine Seele sein werden und einander in der vollkommensten Harmonie zugetan – ich sage, warum wir das nicht schon hier tun können, dazu kann ich nichts sagen, und ich will auch weiter nichts mehr darüber sagen, als daß es zu beklagen bleibt.
Ich könnte lange bei den Schrecknissen dieser grauenvollen Zeit verweilen und damit fortfahren, die Szenen zu beschreiben, die sich jeden Tag unter uns abspielten: die gräßlichen Absonderlichkeiten, zu welchen der Fieberwahn die Kranken trieb; wie die Straßen sich jetzt mit Schreckensszenen zu füllen begannen und Familienmitglieder einander zum Abscheu wurden. Aber nachdem ich ja bereits, wie es oben geschah, von dem einen Mann berichtet habe, der in seinem Bett festgebunden war und sich nicht
Weitere Kostenlose Bücher