Die Pestärztin
Möglichkeit bestand noch darin, die Familie von Treist aufzusuchen und Leona als Clemens' Tochter zu präsentieren. Aber es gab keine Heiratsurkunde - und alle Zeugen ihrer Eheschließung in der Augustinergasse waren tot.
Zudem lebte Clemens' Familie irgendwo im Westfälischen. Lucia würde eine weitere, längere Reise unternehmen müssen, womöglich wieder in Gebiete, die von der Pest heimgesucht wurden. Das alles erschien ihr noch gefährlicher als das Leben als Jüdin in Landshut.
Leona war ein hinreißendes Kind und lernte bereits laufen, als Abraham von Kahlbach endlich zurückkehrte. Lucia war inzwischen überzeugt davon, dass es sich um Clemens' Tochter handelte. Ihre Augen waren nun tiefbraun und ihr Haar blond - die gleiche ungewöhnliche Kombination wie bei ihrem Vater. Dazu meinte Lucia manchmal Clemens' prüfenden Blick und sein warmes Lächeln im Gesicht ihres Kindes wiederzuerkennen.
»Da haben wir ja mein kleines Mädchen! Wie groß du geworden bist!« Leona wackelte dem Besucher entgegen, und Abraham von Kahlbach hob sie lachend hoch und schwenkte sie in der Luft, als sehe er seine eigene Tochter wieder. Er wirkte kein bisschen zerknirscht, sondern hatte aus der misslungenen Reise wenigstens dahingehend das Beste gemacht, dass er alte Geschäftsbeziehungen auf der Landroute nach Italien aufgefrischt hatte. Auch einen Wagen voller Gewürze hatte er in Verona einhandeln können. Die dortige Gemeinde hatte ihm Kredit eingeräumt, und so war ihm zumindest dieses kleine Geschäft gelungen. Es wog zwar die Verluste der Reise in den Orient nicht auf, doch Abraham trug es mit Fassung. Gelegentlich ging etwas schief; das gehörte nun einmal zum Leben eines Kaufmanns.
Für »Lea« hatte Kahlbach zwei Ballen schönster Seide mitgebracht.
Er strahlte sie an, als sie den Stoff mit steinerner Miene betrachtete.
»Nun, gefällt es Euch nicht? Ich dachte, es wäre geeignet für ein Hochzeitskleid!«
Fluoreszierende Seide mit Goldstickerei aus Al Mariya ... Lucia fühlte sich zurückversetzt in die Lagerhäuser der Speyers. David, der den golddurchwirkten Stoff um ihr Gesicht drapierte ... Lea, die von ihrem Hochzeitstag träumte und umweht von Seidenbahnen tanzte ... Lucia schwindelte es.
»Hattet Ihr dafür denn noch Geld, Reb Kahlbach?«, fragte sie hart. »Ich dachte, Ihr hättet alles verloren.«
»Ich habe mich verschuldet, liebste Lea. Oh, bitte, erlaubt mir, dass ich Euch so nenne. Ich war Monate fort, aber ich habe jeden Tag von Euch geträumt.« Kahlbach kniete vor ihr nieder, um die Stoffbahnen auszubreiten. Er hielt den Blick gesenkt.
»Ihr hättet besser ein Auge auf mein Geld gehabt!«, fuhr Lucia ihn an. »Wie gedenkt Ihr mich nun zu entschädigen? Oh ja, Ihr bietet mir die Ehe an. Aber wie wird der Vertrag aussehen, den wir schließen? Wird Leona abgesichert sein, wenn Euch etwas passiert? Auf einer Eurer ach so sicheren Reisen?«
Kahlbach hob die Hand. »Bitte, verdammt mich nicht, liebste Lea! Ich weiß, ich habe fahrlässig gehandelt. Aber so etwas kommt vor. Nicht immer werden unsere Gebete um eine gute Fahrt erhört. Eurer Tochter soll es dennoch an nichts fehlen. Ich werde ihr ein Erbe in der Höhe Eures Verlustes aussetzen. Und ich werde ihr ein liebender Vater sein. Stellt Euch das zufrieden?«
Tatsächlich hatte er Geschenke für das Kind mitgebracht und rügte es auch nicht, als es nun begann, mit der Seide herumzuspielen. Vielleicht hatte er ja wirklich etwas für Kinder übrig. Und er sah auch nicht schlecht aus. Auf der beschwerlichen Reise hatte er Gewicht verloren und wirkte insgesamt muskulöser. Seine Züge schienen klarer, asketischer ... aber für Lucia waren seine Augen immer noch hart; sie sah keine Liebe darin, so sehr er auch beteuerte, etwas für sie zu empfinden. Lucia konnte sich nicht helfen: Für sie betrachtete Abraham von Kahlbach seine zukünftige Frau nicht mit ehrlicher Zuneigung, sondern mit dem vagen Interesse des Forschers. Clemens hatte interessante medizinische Fälle mit einem solchen Blick bedacht, und das gelegentliche Aufleuchten von Abrahams Augen war vergleichbar mit seinem Enthusiasmus, wenn er Pestbeulen aufschnitt.
Der Termin für Leas und Abrahams Hochzeit wurde schließlich auf die Woche nach dem Pessach-Fest festgesetzt. Hannah und Daphne konnten sich vor Aufregung kaum halten. Alle diskutierten die Speisenfolge, die Frage, welchen Cantor man einladen sollte und ob jüdische Spielleute an diesem Tag aufspielen konnten. Ein wichtiges
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