Die Pestglocke
»Es ergibt keinen Sinn.«
Ich kniete nieder, um die Skulptur zu untersuchen.
Eine mit Blattgold beschichtete Krone und die feinen Fleischtöne des ovalen Gesichts wiesen auf vornehme Herkunft hin, eine Königin oder Heilige – in dem Zusammenhang, in dem wir sie gefunden hatten, aller Wahrscheinlichkeit nach eine religiöse Figur. Unter der Krone war kein Schleier, und das Haar hatte die Farbe von Stroh. Ihre roten Lippen waren sittsam geschlossen, aber mit der Andeutung eines Lächelns. Abgesehen von einem altersbedingten feinen Netz aus Haarrissen in der Lackierung war die bemalte Oberfläche vollkommen unbeschädigt. Ohne die Statue zu berühren, wusste ich, dass sie aus Holz war.
»Eine bunt bemalte Holzschnitzerei«, verkündete ich und erhob mich. »Und sie scheint in einem ausgezeichneten Zustand zu sein. Beinahe lebensgroß noch dazu, wie es aussieht.«
»Ein seltener Fund, oder?«, sagte Gayle stolz.
»Auf jeden Fall.«
»Welche Epoche?«
»Das kann ich erst sagen, wenn wir sie besser zu Gesicht bekommen.«
»Da sie aus Holz ist, kann sie natürlich problemlos wissenschaftlich datiert werden.«
»Irgendwann vielleicht. Aber im Augenblick kommt es nicht in Frage, eine Probe zu entnehmen. Außerdem macht es sowieso mehr Spaß, das Alter selbst zu schätzen, findest du nicht?«
»Dir vielleicht. Mittelalterliche Holzschnitzereien sind nicht gerade meine Stärke.«
Sie sind zwar auch nicht meine Spezialität, aber ich habe für mein Diplom die Archäologie von Kunst und Kultur studiert und meine Doktorarbeit über die Verwendung von zerbrochener Bildhauerei als Füllmaterial für Gebäude nach der Auflösung der Klöster geschrieben. Man kann sich vorstellen, welche Ehrfurcht ich Leuten auf Dinnerpartys damit einflöße.
»Schaffen wir sie zunächst mal aus der Sonne.« Aber wie sollten wir den Sarg bewegen? »Am besten, wir holen sie ganz aus dem Sarg – er ist nicht mehr luftdicht und schützt weder vor Feuchtigkeit noch Insekten, was vermutlich zur Konservierung der Statue geführt hat. Wir werden versuchen müssen, diese Umgebung fürs Erste so gut wie möglich nachzubilden.«
»Kühl, dunkel und trocken, würde ich sagen.«
»Ja, das klingt richtig. Wir machen dabei auch fortlaufend Fotos. Ich nehme an, du hast bereits welche gemacht.«
»Stimmt.« Gayle holte ihre Digitalkamera aus einer geräumigen Tasche ihrer Jeans.
Ich ging um den Sarg herum und sah mir an, wie er gefertigt war. Im Wesentlichen handelte es sich um einen rechtwinkligen Kasten, die Seitenteile hatte man mit dem hochgeklappten Boden an den Rändern verlötet. Der Deckel war in gleicherweise gebaut. »Wie habt ihr den Deckel übrigens aufbekommen?«
»Das Lötmetall war spröde geworden. Die Oberseite erhielt einen Schlag, als das Gewölbe herunterkam, und ein Teil des Lötmetalls darum herum bröckelte einfach weg, sodass wir den Deckel ohne große Mühe ein Stück aufziehen konnten. Ich muss sagen, ich bin erschrocken, als ich sah, was darunter lag.«
Ich wusste noch nicht genau, wo wir die Statue untersuchen sollten, wenn wir sie befreit hatten. Der tragbare Unterstand, den wir zum Säubern und Zusammensetzen unserer Skelettfunde benutzten, würde viel zu warm und hell sein; und als ich den Blick nun über das Gelände schweifen ließ, stellte ich fest, dass er überdies bereits abgebaut war.
»Ich meine, was hat sie überhaupt auf einem Friedhof verloren? Und in einem Sarg?« Gayle war immer noch aufgeregt, was ihre Stimme schrill klingen ließ.
»Da bin ich überfragt«, sagte ich. Meine Theorie vom beigesetzten Ehepaar war damit ebenfalls hinfällig. »Die Frage ist, wo können wir sie sicher aufbewahren?«
»Im Heritage Centre?«
Ich dachte kurz darüber nach. Wir hatten im Castleboyne Library and Heritage Centre zu Beginn des Monats eine kleine Ausstellung aufgebaut. »Kulturerbezentrum« war nicht ganz die richtige Bezeichnung. Es handelte sich eigentlich nur um einen einzigen Raum, der für Kunstausstellungen, Vorträge und Buchpräsentationen genutzt wurde. Die Stadtverwaltung würde wahrscheinlich keine Einwände dagegen erheben, die Statue vorübergehend in diesem Raum unterzubringen. Immerhin war sie auf städtischem Grund gefunden worden. Oder nicht? Es spielte im Grunde keine Rolle. Das Kunstwerk war Eigentum des Staates, der seinen Besitzanspruch über das Nationalmuseum ausüben würde.
»Gute Idee«, sagte ich. »Du wirst ein paar kräftige Kerle brauchen, um den Deckel abzulösen und sie
Weitere Kostenlose Bücher