Die Pestglocke
eingeschlossen hatte?
Mir war klar, dass ich es dabei belassen musste und nicht weiter spekulieren durfte. Meine Fantasie geht manchmal mit mir durch und bringt mich häufig in Schwierigkeiten, aber ich bilde mir gern ein, dass sie mich noch öfter in die Lage versetzt, lange vor anderen vorauszusehen, wie sich eine Sache schlimmstenfalls – oder auch bestenfalls – entwickelt. Es ist eine Gabe und ein Fluch zugleich, wie der Apfel in einem bestimmten Märchen – beißt man in die eine Seite, kann man die Zukunft voraussagen, beißt man in die andere, ist man tot.
Terry Johnston war allerdings wirklich tot. Und obwohl ich dabei gewesen war, als er starb, begriff ich es erst jetzt richtig, als ich an vergiftete Äpfel in Märchen dachte. Es war, als würde es mir an der Kompetenz mangeln, einen so fundamentalen Umstand zu beurteilen, und ich hätte deshalb fast erwartet, den Patienten gesund und munter anzutreffen, wenn ich ins Krankenhaus zurückkehrte.
Am Eingang zur Intensivstation saß ein Wachmann und las in einer Zeitung. Er blickte kaum auf, als ich näher kam. »Zutritt nur für berechtigtes Personal«, sagte er und ließ den Blick über das Bild einer Frau wandern, die beim Einsteigen in ein Auto ihre Unterwäsche zur Schau stellte. Der Gedanke, ich könnte den äußeren Absperrring durchbrochen haben, kam ihm nicht.
»Dr. Abdulmalik hat mich gebeten, wegen einer Konsultation von der Chirurgie herüberzukommen.«
Der Wachmann musterte mich und seufzte müde. »Wieso sagt mir niemand Bescheid? Woher soll ich wissen, wer wer ist? Gehen Sie zu.« Er schüttelte die Zeitung, um seine Unzufriedenheit zu unterstreichen, und nahm seine Zwickelschau wieder auf.
Ich stieß die Schwingtür zum Korridor auf und fand den Warteraum, wo ich am Morgen mit den beiden Ärzten gesprochen hatte. Ich schaute hinein und sah zwei Leute, einen Mann und eine Frau in den Zwanzigern, beide trugen Trainingsanzüge mit Streifen und sahen blass und abgezehrt aus. Vielleicht die Kinder oder Geschwister des Opfers, dachte ich. Aber ich kannte sie nicht.
Ich ging weiter zur Schwesternstation und war erleichtert, Cora Gavin zu sehen. Sie stand mit dem Rücken zu mir und sprach mit einer Schwester mittleren Alters, die am Schreibtisch saß und sich Notizen machte. Beide blickten überrascht auf, als ich auf sie zukam.
»Illaun, was in Gottes Namen tust du hier?«
»Ich habe gehört, dass ihr jemanden mit denselben Symptomen wie bei Terry aufgenommen habt, aber ich bin am Telefon nicht durchgekommen. Ich dachte, es handelt sich vielleicht um einen weiteren Arbeiter von der Ausgrabung.«
»Sie dürften nicht hier sein«, sagte die Schwester und griff zum Telefon, um den Sicherheitsdienst anzurufen.
»Schon in Ordnung, Francesca«, sagte Cora und legte der Frau beruhigend die Hand auf die Schulter. »Francesca leitet das Team, das mögliche Ansteckungen verhindern soll«, erklärte sie. Sie kam hinter der Theke hervor, und wir spazierten langsam den Flur entlang. »Es ist jedenfalls niemand von deinen Leuten, das kann ich dir garantieren.«
Ich fühlte eine gewisse Erleichterung. »War es jemand, der Kontakt mit Terry hatte?«
»Das glauben wir nicht. Er heißt Stephen Bolton und ist neun Jahre alt.«
»Was?« Ich war völlig verdutzt. »Bist du dir sicher, dass es dieselbe Sache ist?«
»Noch können wir nicht absolut sicher sein. Und da wir bis jetzt nicht wissen, mit welcher Infektion wir es ursprünglich zu tun hatten, sind wir ein bisschen wie Blinde im Dunkeln.«
»Aber die Symptome sind ähnlich.«
»Ähnlich wie in der Spätphase von Johnstons Krankheit, ja.«
»Spätphase?«
»Ja. Der Junge stirbt, fürchte ich. Die Symptome zeigten sich schon am Samstagabend, aber seine Eltern brachten ihn erst heute Morgen ins Krankenhaus. Sie dachten, er hätte sich nur eine Sommergrippe eingefangen.«
»Vielleicht ist es ...«
»Illaun, er liegt im Koma, seine Organe versagen eines nach dem anderen aufgrund einer Blutvergiftung, er hat innere Blutungen, und auf seiner Haut bilden sich eitrige Wundstellen. So sieht keine Grippe aus.«
Mein Wunschdenken war mir gründlich genommen.
Cora senkte die Stimme. »Aber es ist nicht nur das …« Sie wandte kurz den Blick ab, dann schaute sie mir direkt in die Augen. »Stephen und drei andere Jungen haben am Freitagabend zusammen auf dem Friedhof in den Maudlins gespielt.«
Es war heiß in diesem Flur, aber schlagartig kroch mir eine klamme Kälte über die Haut.
»Als seine Eltern
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