Die Pestmagd
befahl der Erzbischof. » Sagt es ihm selbst!«
» Mein Vater ist schwer erkrankt«, sagte der Leibarzt. » Sein Herz und zahlreiche Unpässlichkeiten machen ihm zu schaffen. Und da auch meine Mutter bereits betagt ist, ruft mich die Sohnespflicht zurück nach Utrecht. Ich will dabei sein, wenn er die Augen schließt. Das bin ich ihm nach einem Leben fern der Heimat schuldig.«
» Wir können also auf Euch zählen?«, fragte der Kanzler, an Vincent gewandt.
» Ihr konntet stets auf mich zählen«, erwiderte dieser. » Wenngleich ich kein Mensch bin, der sich gerne einsperren lässt. Freiheit allein hat mich alles gelehrt, was ich heute beherrsche – Freiheit zu reisen, Freiheit zu sehen, zu lernen und wieder zu verwerfen. Und das lasse ich mir von niemandem nehmen!«
Er hatte so leidenschaftlich gesprochen, dass alle Augen auf ihn gerichtet waren. Man hörte nur noch die Scheite im Kamin ächzen, sonst war es totenstill geworden.
» Manchmal macht Ihr mir ein wenig Angst, de Vries«, brach der Erzbischof schließlich die Stille. » Wisst Ihr das eigentlich?«
Vincent räusperte sich. Solange er hier war, musste er mit von Wied auskommen. Besser, ihm einen Schritt entgegenzugehen, als ihn zum Gegner oder gar Feind zu haben.
» Seid unbesorgt, Exzellenz«, sagte er. » Solange der Vogel nicht in den Käfig muss, ist durchaus mit ihm auszukommen. Lasst uns als Erstes den Stand Eurer Arzneien begutachten. Ihr solltet stets reichlich Vorrat halten, damit sie Euch niemals ausgehen. Und jetzt, da Apotheker Mechthus verstorben ist …«
» Es gibt bereits einen Nachfolger«, sagte Longolius. » Walter Eckes. Der wird die Apotheke im Namen der Witwe weiterführen.«
» Dann werde ich ihn aufsuchen«, sagte Vincent. » Mit der Witwe Mechthus habe ich ohnehin zu reden.«
x
Der dritte Kadaver musste der schrecklichste werden.
Doch das Töten fiel ihm zunehmend schwerer. Keines der Tiere hatte ihm etwas getan, und es half nichts, dass er insgeheim bei ihnen Abbitte leistete, bevor er ihnen das Fell über die Ohren zog. Das Messer leistete ihm dabei gute Dienste, sein heimlicher Freund, ohne den er sich nackt und bloß gefühlt hätte.
Die Krähe spürte, dass sich etwas zusammenbraute.
Marusch hatte ihn nicht wieder ins Pesthaus gelassen. So war ihm nichts anderes übrig geblieben, als in verlassenen Häusern auf die Suche nach Wäschestücken zu gehen, die er als Beute ausgeben konnte. Andere vor ihm waren schneller gewesen und offenbar gründlicher, sodass sein Ertrag eher mager ausfiel.
Christian hatte dies mit einem Achselzucken abgetan und sich dann wieder schweigend ans Feuer gesetzt. Der Bader war gestorben, sein Vater, wie die Krähe erst jetzt erfahren hatte. Infiziert von den Pestlumpen, die der eigene Sohn ihm vor die Tür gelegt hatte.
Die Krähe hatte sich niemals allzu viele Gedanken darüber gemacht, wozu dieses Sudelzeug gut sein sollte, das sie auf Neuhaus’ Anordnung stehlen mussten. Jetzt aber konnte er nicht länger die Augen davor verschließen.
Sie schleppten den Tod aus dem einen Haus, um ihn in das nächste zu tragen – zu Menschen, die in der Bibel lasen und an das Wort Gottes glaubten, so wie Nele. Deshalb hielten sie sie gefangen, wie sie ihm gestern Abend in atemlosem Stakkato zugeflüstert hatte, als er sich zu ihrem Gitter gehangelt hatte. Damit sie ihre Glaubensbrüder und -schwestern preisgab und somit das Todesurteil über sie fällte.
» Aber ich rede nicht«, hatte sie gerufen. » Denn das Wort ist heilig. Mit dem Wort hat Gott die Welt erschaffen. Niemals werde ich es mit Füßen treten – und wenn sie mir Nase und Ohren abschneiden!«
Eine große Angst war in die Krähe gefahren, auch wenn er nicht so genau verstand, was sie damit meinte. Denn das könnten sie ihr durchaus antun, wenn sie weiterhin uneinsichtig blieb, wie Ruch es mit zynischem Lächeln nannte, und noch viel mehr.
Es machte ihn unruhig, dass dieser Neuhaus schon wieder ins Siechenhaus gekommen war. Dass er sich mit Christian und Ruch in eines der leeren Zimmer verkrochen und sogar den Wein abgelehnt hatte, den er sonst so gern bei ihnen soff.
Etwas braute sich zusammen.
Er spürte es mit allen Sinnen, etwas Böses, Dunkles, das Nele galt.
Wie konnte er da noch länger auf der Lauer liegen?
Der dritte Kadaver war schließlich nur eine Frage der Zeit. Schon jetzt würde sie zittern und beben, sobald sie an das grüne Band an den geschändeten Tieren dachte, jenes Band, das auch sie um den Hals
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