Die Pestmagd
empfing sie ihn an der Pforte, eine Lampe in der Hand, als hätte sie bereits auf ihn gewartet. Nebenan stöhnten und ächzten die Kranken, in Johannas Kammer schlief Ennelin mit ihren neugeborenen Kindern. Sie schafften es gerade noch treppauf bis in Sabeths winzigen Verschlag.
Dort sanken sie auf die schmale Pritsche, ein Knäuel aus Armen, Händen, Beinen, Mündern. Mieze, in ihrer nächtlichen Ruhe gestört, verzog sich mit leisem Fauchen.
» Und wenn Sabeth schlafen gehen möchte?«, fragte er zwischendrin.
» Sie wacht bei Ennelin«, sagte Johanna. » Heute ist die blaueste ihrer Nächte seit Jahren. Vielleicht wird es niemals wieder so werden.«
Er lachte, dieses große, hungrige, unbekümmerte Lachen, das sie so lange vermisst hatte, und zog sie noch enger an sich.
Jeden Augenblick konnte Marusch hereinschneien oder Grit, weil einer der Kranken unruhig wurde. Jemand konnte sterben, Ennelin würde Hilfe brauchen oder Sabeth erneut ins bodenlose Grau sinken – doch das alles kümmerte die beiden nicht. Es gab nur noch diesen Mann und diese Frau, die sich wiederfanden und ganz neu entdeckten.
Wieder waren sie in der alten Hütte, während draußen das Laub in den Bäumen raschelte und der große Fluss sein blaues Lied sang, jung, verliebt, trunken von einer Zukunft, die noch vor ihnen lag. Gleichzeitig aber war es dunkel und kalt, es roch nach Krankheit und Tod, und die Zeit hatte unverwechselbar ihre Spuren auf ihnen hinterlassen.
Damals hatten sie getastet und gesucht. Alles war neu gewesen, ein aufregendes Spiel in immer neuen Facetten. Jetzt lagen Sorgen und Bitternis hinter ihnen, Angst und Fremdheit.
Der Geruch anderer Körper. Das Bewusstsein von Trennung und Tod.
Es gab kein zärtliches Verweilen, sondern nur diese eine verzweifelte Lust, die nach Erfüllung schrie. Seine Hände waren fordernd, und sie gab ihnen nur, was sie wollte, während sie ihre Fingernägel tief in sein Fleisch grub.
Mittendrin griff Johanna nach ihrem Band, als könnte sie es keinen Augenblick länger ertragen, und riss es sich vom Hals. Vincent bedeckte ihre Narben mit heißen Küssen, während sie sich ihm entgegenbäumte.
Es war kein Spiel, sondern Kampf, ein Kräftemessen, wie sie es noch nie zuvor miteinander betrieben hatten, und je länger es dauerte, desto heftiger wurde es. Sie schwitzten, sie stöhnten, sie ächzten, ineinander verschlungen und dennoch zwei Pole, die sich abstießen und unentwegt zueinander strebten.
Schließlich sank er auf ihr zusammen.
» Du musst fort«, murmelte sie, als ihr Atem wieder ruhiger geworden war. » Du bist schon viel zu lange hier.«
» Gleich.« Er hinderte sie am Aufstehen. » Du hast ein Kind geboren, Johanna?«
» Woher willst du das wissen?«, fuhr sie ihn an.
» Dein Verhalten während Ennelins Entbindung hat es mir gezeigt. Und die silbrigen Streifen auf deinem Bauch. Ich habe dich heimlich beim Baden beobachtet. Ich konnte nicht anders.« Er machte eine kleine Pause. » Der Bader hat gesagt …«
» Der Bader hat sich geirrt. Mein Sohn ist tot. Tot!« Abermals begann sie zu weinen, als hätten die Tränen nur darauf gewartet, endlich wieder fließen zu können. » Er war keine fünf, als er starb, damals in Freiburg, wohin ich geflüchtet war …«
» Unser Sohn?« Seine Stimme schwankte zwischen Hoffnung und Furcht.
» Jakob.« Sie nickte. » Ich wusste es erst, nachdem du schon fort warst.«
» Du hast ihm trotzdem den Namen meines Vaters gegeben?«
» Damit er wenigstens irgendetwas von dir hat«, sagte Johanna. » Aber das hätte ich gar nicht tun müssen. So ähnlich war er dir, als hätte ein Bildhauer das gleiche Gesicht noch einmal in Klein geschnitzt. Mit der Arbeit im Badehaus hab ich uns beide durchgebracht. Alle mochten meine Hände, was mich davor bewahrt hat, anderes tun zu müssen. Bis die Pest kam – und ihn mir genommen hat.« Ihre Hände flogen zum Hals. Sie wurden erst ruhiger, als sie wieder ihr gewohntes Band angelegt hatte.
» Du musstest an seinem Grab stehen?«
» Wie denn!« Schluchzend sprang sie auf. » Ich war doch selbst dem Tod näher als dem Leben! Ich hatte ihn einer Frau anvertraut, die schwor, sie würde sich seiner annehmen, und sie dafür bezahlt, damit es ihm gut bei ihr ging. Doch als ich die Pest überlebt hatte und ihn bei ihr holen wollte, war Jakob …« Sie konnte nicht mehr weiterreden.
» Jo!« Erneut wollte er sie umfangen. » Meine Jo!«
» Geh jetzt!« Johanna schob ihn weg. » Die Arbeit wartet. Und
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