Die Pestmagd
dein Sohn, Johanna«, sagte Ennelin unvermittelt. » Ich wollte es Ludwig nicht glauben, weil ich voller Ängste und Vorbehalte gegen dich war. Aber der Junge hatte deine Augen. Und er hat dich gesucht.«
Wenzel schien eingeschlafen zu sein. Dafür meldete nun Elisabeth erneut lautstark ihre Ansprüche an. Johanna tauschte die Positionen der Kinder, dann war das Weinen eifrigem Nuckeln gewichen.
» Er ist später noch einmal zu mir gekommen«, fuhr Ennelin fort. » Er muss mir heimlich bis zur Apotheke gefolgt sein. Es war der Tag, an dem Medicus de Vries aufgebrachte Männer daran gehindert hat, einen Juden zu erschlagen, dem sie die Schuld an der Pest zuschieben wollten. Hat er dir nichts davon erzählt?«
» Wir haben anderes miteinander zu bereden«, sagte Johanna steif. » Dinge, die das Pesthaus betreffen.«
» Ihr habt so – vertraut gewirkt. Aber da muss ich mich wohl getäuscht haben.« Ennelin klang alles andere als überzeugt. » Dein Sohn hat dabei auch etwas abbekommen, nachdem er tapfer gegen die Angreifer vorgegangen war – allein. Ohne eine Spur von Angst. Ich hab mich anschließend um seine verletzte Hand gekümmert.« Sie schluckte. » Und ihm zuletzt verraten, dass du im Turm sitzt.«
» Und wenn schon«, sagte Johanna scharf, obwohl ein seltsames Gefühl in ihr aufstieg. » Ihr irrt euch alle! Mein Sohn ist tot. Gestorben vor vielen Jahren.«
» Dann muss Gott der Allmächtige einen zweiten jungen Mann erschaffen haben, der mit deinen Augen durch die Welt läuft und ausgerechnet nach einer Johanna sucht«, sagte Ennelin. » Kommt dir das nicht merkwürdig vor?«
Sie wollte das nicht mehr hören. Und doch kreisten ihre Gedanken unablässig darum.
Während Johanna die Morgensuppe für die Kranken ansetzte, kamen ihr Bilder in den Sinn, die so bunt und lebendig waren, dass sie die Gegenwart ganz vergaß.
Jakob, der zum ersten Mal schwankend auf sie zugelaufen kam, strahlend wie ein Sieger. Jakob, der jedes Lied nur einmal hören musste, um sich die Melodie einzuprägen. Jakob, der sich zunächst vor Vögeln gefürchtet und in ihrem Schoß verkrochen hatte, später aber nicht damit aufhören konnte, die Vögel aufmerksam zu beobachten.
» Ein Falke möcht ich sein, wenn ich einmal groß bin«, hatte er zu ihrer Überraschung eines Tages gesagt, da war er gerade vier Jahre alt gewesen. » Denn Falken, die sind groß und frei …«
Der Gestank nach Verbranntem holte Johanna unsanft in die Küche zurück. Sie musste alles wegkippen, den Topf mühsam scheuern und noch einmal von vorn beginnen. Dabei bemerkte sie, dass die Vorräte erneut zur Neige gingen.
Was würde aus ihnen werden, jetzt, da Ludwig nicht mehr lebte und Ennelin im Wochenbett lag? Grete Mechthus, inzwischen ebenfalls zur Witwe geworden, wie Johanna erfahren hatte, würde kaum in der Lage sein, das Pesthaus für die Tochter weiter zu betreiben. Was nichts anderes hieß, als dass dringend ein neuer Pächter gesucht werden musste. Doch wer sollte das übernehmen – in einer Stadt, in der so viele dem Tod geweiht waren?
Und wenn niemand sich finden würde?
Johannas Hände begannen plötzlich zu zittern, während sie die Näpfe mit der Hafersuppe füllten. Bedeutete das erneut Turmhaft für sie? Oder noch schlimmer, den Galgen? Oder musste sie das gar nicht mehr erleben, weil der geheimnisvolle Rächer, der verstümmelte Tierkadaver anschleppte, um sie in Angst und Schrecken zu versetzen, dafür sorgen würde, dass sie zuvor starb?
Sie schaffte es, diejenigen Kranken zu füttern, die noch ein paar Löffel essen konnten. Nach Kurzem war es ohnehin bei den meisten auch damit vorbei. Dann schrien sie nur noch nach Flüssigkeit, weil das hohe Fieber, das die Pest mit sich brachte, ihre Körper zu verbrennen drohte. Ein Mädchen war darunter, keine fünfzehn, die Johanna ganz besonders ans Herz gewachsen war. Dass ein paar Löffel zwischen ihren aufgesprungenen Lippen verschwanden und danach nicht sofort wieder erbrochen wurden, nahm Johanna als gutes Zeichen, auch wenn Vincent ihr gesagt hatte, dass er bei diesem Fall äußerst skeptisch sei, weil die Beulen hart blieben wie grüne Blütenkapseln und keinerlei Tendenz zum Reifen zeigten.
Danach nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und öffnete die Pforte.
Die Schwelle war leer. Kein dritter übel zugerichteter Kadaver, wie sie insgeheim befürchtet hatte.
Doch es war lediglich ein Aufschub. Etwas sagte Johanna, dass der Geheimnisvolle wiederkommen würde.
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Drei Nächte in
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