Die Pestmagd
verlieren.
Die Augen auf den schlammigen Boden geheftet, in dem manch Frauenschuhabsatz stecken zu bleiben drohte, hetzte er voran, bis er geradezu in jemanden hineinrannte. Er erkannte Bela am Geruch, noch bevor sie ein Wort von sich gegeben hatte. Sie hielt einen Besen in der Hand, den sie wohl gerade gekauft hatte. Beinahe hätte er gelächelt, denn er hatte sie noch nie mit einem Besen gesehen. Sie starrte ihn an, dann begann ihr Gesicht sich leicht zu röten.
» Du kommst nicht mehr«, sagte sie mit belegter Stimme.
Der silbrige Pelz mit den dunkleren Spitzen um ihren Hals vibrierte bei jeder Bewegung. Sie hatte ihn einmal für ihn auf ihre nackten Brüste gelegt. Er dachte noch immer gern daran, doch die Erregung, die er bislang stets dabei gespürt hatte, war verflogen.
Erst blieb er ganz starr, schließlich nickte er.
» Liegt es am Geld?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf.
» Habe ich nicht all deine Wünsche erfüllt?«
» Doch«, sagte er. » Immer. Aber …«
» Lass mich raten! Du hast eine neue Braut gefunden. Eine, die schöner ist als ich. Die zur Kirche geht und fromme Lieder kennt. Eine, die dein Herz gestohlen hat …«
» Hör auf!«, verlangte er. » Es ist so, wie es ist.«
» Es ist so, wie es ist«, wiederholte sie leise.
Ihre Augen lagen tief und waren dunkler als in seiner Erinnerung, der Blick wie nach innen gerichtet. War sie schwanger? Oder krank?
» Ich muss weiter«, sagte er. » Ich darf mich nicht aufhalten lassen.«
Sie gab einen Laut von sich, der wie ein Seufzer klang. Dann griff sie nach seiner Hand.
» Eines noch«, sagte sie. » Deinen Namen! Ich lass dich nicht fort, bis ich endlich weiß, wer du bist.«
» Jakob«, sagte er.
Dann machte er sich behutsam frei und ließ sie stehen.
Die Strecke bis zum Ehrentor, die seine Füße inzwischen auswendig kannten, so oft waren sie sie schon gelaufen, erschien ihm heute doppelt so weit. Es lag nicht an dem starken Wind, dem er sich entgegenwerfen musste, um vorwärtszukommen. Sein Herz war es, das die Schritte so schwer und mühsam machte, sein Herz, das ihm zuschrie, dass er ein Feigling war, der Nele im Stich gelassen hatte, als sie ihn am meisten gebraucht hatte.
Es begann zu dämmern, als er den Siechenhof erreichte, was sich als günstig erweisen konnte. Jetzt würden sich alle um die Feuerstelle im großen Haus versammeln, die das offene Feuer der milden Herbstmonate abgelöst hatte. Fast glaubte er das Wild zu riechen, das an Spießen über der Glut gebraten wurde, und sein Magen, der nach dem Brotkanten nur die paar Äpfel abbekommen hatte, zog sich hungrig zusammen.
Wo war Nele? Befand sie sich überhaupt noch auf dem Gelände?
Er pirschte zum Backhaus. Die Tür war verschlossen, doch seine Kräfte reichten gerade noch aus, um sich nach oben zu stemmen und durch das vergitterte Fenster zu schauen.
Drinnen war alles verlassen und leer, als hätte hier niemals ein Kampf stattgefunden. Weder eine Leiche noch eine Spur von Nele.
Hielten sie sie in einem der Keller gefangen? Dann konnte es Stunden dauern, bis er sie finden würde, wenn nicht Tage, denn unter den verschiedenen Gebäuden des Siechenhofes gab es angeblich unterirdische Verbindungen, die einem Labyrinth glichen. Ruch hatte öfter davon erzählt, in diesem lauten, prahlerischen Tonfall, den er immer dann anschlug, wenn er sich vor den Frauen ins beste Licht setzen wollte.
Und wenn er sich inzwischen Nele auf » seine Weise« vorgenommen hatte, wie er zu sagen pflegte? Jakobs Zuversicht sank weiter. Diesem Einäugigen, dem jegliches Gefühl abhandengekommen zu sein schien, traute er noch weitaus Übleres zu als Christian, der ebenfalls kaum Skrupel kannte.
Sie konnten Nele vergewaltigt haben, wüst misshandelt, halb totgeschlagen …
So mutlos hatte er sich nicht mehr gefühlt, seit er den Alten und dessen Schikanen für immer hinter sich gelassen hatte. Jetzt kroch er weiter, gebeutelt von der Angst, zu spät zu kommen.
Der ehemalige Stall – leer. Auch in der Scheune fand er sie nicht.
Plötzlich rollte Gerhild laut fluchend ein Bierfass über den Hof. Blitzschnell warf er sich auf den Boden und rührte sich nicht mehr. Der Leiterwagen, mit dem sie ihn zum Pesthaus geschickt hatten, verdeckte ihn weitgehend. Aber was hatten sie mit dem Karren angestellt? Windschief und krumm war er, mehrere Stäbe herausgebrochen, als hätten sie ihre Wut an dem leblosen Ding ausgelassen.
Inzwischen war Jakob beim einstigen Badehaus angelangt, Neles
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