Die Pestmagd
Leute begegnet, die Ähnliches behauptet haben. Darauf verlassen würde ich mich allerdings nicht. Diese Seuche ist tückischer als die Schlange und stärker als ein Bär. Kein Kraut scheint gegen sie gewachsen.«
Er spürte, wie er immer unruhiger wurde. Johanna – mit jeder Faser seines Seins zog es ihn zu ihr.
In welchem Zustand würde er sie vorfinden?
Bis in die Morgenstunden hatte er über seinen Aufzeichnungen gebrütet, doch die Zeit bis zum Hellwerden wollte einfach nicht schneller vergehen. Der Frankenturm zählte zu den gefürchtetsten Kerkern Kölns. Nur ein Verlies besaß einen noch schlimmeren Ruf: die erzbischöfliche Hacht am südlichen Domplatz.
Vincent begann hastiger weiterzureden und merkte an seinen Antworten, dass die Fragen der Studenten ihn nicht mehr wirklich berührten. Dabei war es doch so wichtig, sie auf den Umgang mit der Seuche vorzubereiten!
In seinem jetzigen Zustand war er dazu nicht in der Lage. Er beschloss die Vorlesung mit einem kurzen Exkurs über Wunderheiler und Quacksalber.
» Hütet euch vor jenen, die Allheilmittel gegen die Pest aus dem Hut zaubern wollen! Das Einzige, was dabei verschwindet, sind die Münzen in eurer Geldkatze – gewiss nicht die Pestbeulen. Seid wachsam und vorsichtig! Alles Weitere liegt in Gottes Hand.«
Dann waren sie endlich fort.
Er nahm seine Tasche, in die er zu den Gerätschaften, die der Pestbekämpfung dienten, wahllos Medikamente und Stärkungsmittel gestopft hatte, und verließ die Artistenfakultät.
Von der Stolkgasse bis zum Frankenturm war es nur eine kurze Strecke, und doch waren seine Beine bleischwer, als er endlich am Rheinufer angekommen war. Anstatt sich in das Spiel der Wellen zu vertiefen, wie er es sonst so gern tat, wenn er nachdenken musste, wandte er sich nun dem Kerker zu.
Der Turmmeister öffnete ihm, als er an die untere Pforte schlug. Es war ein blasser, ausgemergelter Mann mit scharfen Zügen.
» Medicus de Vries«, sagte Vincent. » Leibarzt des Erzbischofs. Seine Exzellenz schickt mich, um nach der Gefangenen zu sehen. Ihr seid Meister Meigin?«
» Der bin ich. Endlich!« Die schmalen Lippen verzogen sich erleichtert. » Ich hatte schon ernsthafte Befürchtungen, sie würde die Nacht nicht überleben. Dabei hat Seine Exzellenz eine ordentliche Hinrichtung angeordnet, die Eindruck bei den Zuschauern hinterlassen soll. Aber wie kann das gehen, wenn die Giftmischerin halb tot ist?«
Vincent nickte knapp, darum bemüht, sich den wilden Aufruhr in seinem Herzen, den diese Worte auslösten, nicht anmerken zu lassen.
» Man hat sie gefoltert?«, fragte er so sachlich wie möglich, während er dem Mann folgte.
» Mehrfach.« Meigin nickte bekräftigend. » Zu einem Geständnis war sie allerdings erst bereit, nachdem man ihr den Inhalt des Jauchekübels eingeflößt hatte. Noch stundenlang später hat sie gewürgt und gekotzt. Davon erholt sich keiner mehr.«
Vincents Herz weigerte sich anzunehmen, was seine Ohren hören mussten. Auf einmal war ihm selbst sterbensübel. Er atmete flach, als der Turmmeister den Riegel löste.
Das Verlies war dämmrig, obwohl draußen heller Tag war. Zwei Pritschen, nur eine davon belegt. Ein Bündel aus Lumpen, ein Nest schmutziger, wüst abgesäbelter Haare, die einmal blond gewesen mochten.
» Ich muss eine Weile allein mit ihr sein«, brachte er mühsam hervor. » Nur so kann ich sie untersuchen.«
» Wie Ihr wünscht.« Meigin zog sich zurück.
Schwerfällig wie ein alter Mann näherte sich Vincent der Pritsche.
» Johanna?«, sagte er leise. » Meine Jo – hörst du mich?«
Eine Bewegung. Er hörte Eisen klirren und glaubte, ein Stöhnen zu vernehmen. Wohin er auch schaute, überall getrocknetes Blut, auf den Armen, den Beinen, dem schmutzigen Hemd.
» Jo?« Jetzt war er nah genug. » Ich bin es, Vincent. Endlich lassen sie mich zu dir. Was haben sie nur mit dir gemacht, meine Jo? Du – eine Giftmörderin? Sie müssen wahnsinnig geworden sein.«
Er schob seine Arme unter sie, um sie behutsam umzudrehen. Wie dünn sie geworden war! Sie war so leicht wie ein Kind, schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen.
Als er schließlich ihr Gesicht sehen konnte, traf es ihn wie ein Hieb.
Der Mund eine schorfige Wunde, eingetrocknete Jauchespuren an Hals und Kinn. Der Gestank, den die Gefangene verströmte, war unerträglich, doch das war es nicht, was ihn zurückzucken ließ.
Die Augen, die ihn angstvoll anstarrten, waren braun – nicht grün.
» Lenne«, nuschelte
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