Die Pestmagd
die Frau. » Lenne – nischt Johanna!«
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Marisa hatte Nele ein blaues Kleid geschenkt, das zu ihren blonden Locken passte und den blassen Wangen Farbe verlieh. Sie war nicht mehr im Badehaus eingesperrt, auch wenn sie dort noch immer schlief, sondern konnte sich frei auf dem Gelände des Melatenhauses bewegen. Weglaufen allerdings war strengstens verboten, das hatte Ruch ihr unmissverständlich klargemacht, aber Nele schien daran gar nicht zu denken, sondern ging mittlerweile den Frauen beim Kochen zur Hand, wobei sie erstaunliche Geschicklichkeit bewies.
Dass sie nichts redete, störte niemanden weiter.
Die Krähe sah sie nur lächeln, wenn er in ihre Nähe kam. Ein unsichtbares Band schien sie beide zu verknüpfen, das von Tag zu Tag fester wurde. Inzwischen kannte er all ihre kleinen Gewohnheiten. Die Geste, mit der sie sich das Haar aus der Stirn strich, die steile Falte, die zwischen ihren Brauen erschien, sobald sie ärgerlich wurde. Sie legte den Kopf schief, wenn sie überrascht war, und zog die Unterlippe mit den Zähnen ein, wie sie es vielleicht schon getan hatte, als sie ganz klein gewesen war.
Wenn Nele zum Grab ihrer Mutter ging, wurde ihr Rücken stocksteif, als brauchte sie zusätzlichen Halt. Die Mutter lag nicht auf dem kleinen Friedhof, der zum Leprosenanwesen gehörte, sondern war ein Stück davon entfernt bestattet worden. Inzwischen zierte ein provisorisches Kreuz aus zwei aufeinander gebundenen Ästen die Stelle.
Die Krähe, die ihr gefolgt war, hörte sie weinen, als sie vor dem Grab stand.
» Warum bin ich nicht bei dir?«, klagte Nele. » Wie konntest du sterben und mich hier zurücklassen?«
» Du kannst ja sprechen!«, entfuhr es ihm.
Sie fuhr zu ihm herum, die Lippen so fest aufeinandergepresst, als wollte sie sie niemals wieder öffnen.
» Keine Angst, ich werde dich nicht verraten.« Sein Zeigefinger fuhr blitzschnell über die Lippen – das alte Rotwelschzeichen für Verschwiegenheit, das allen Gaunern vertraut war. » Von mir aus kannst du so lange die Stumme spielen, wie du willst«, setzte er hinzu. » Ich weiß, wer du bist, das genügt mir.«
» Und wer bist du?«, fragte sie leise.
» Das siehst du doch! Ein Mann mit zwei gesunden Beinen, geschickten Fingern und einem Mund zum Küssen«, erwiderte er schnell.
Zu seiner Überraschung wurde sie nicht verlegen, sondern sah ihn weiterhin unverwandt an. Das blaue Kleid war ein wenig zu groß für sie, besonders am Ausschnitt. Unter ihrem Schlüsselbein sah er die bräunliche Linie einer alten Narbe, die sich weiter nach unten schlängelte.
Plötzlich war er um Worte verlegen.
» Wer bist du?«, wiederholte Nele.
» Das weißt du doch.« Sein scherzhafter Tonfall misslang. » Man nennt mich die Krähe. Alle hier nennen mich so.«
Sie schüttelte den Kopf, dann erschien die steile Falte zwischen ihren Brauen.
» Nicht böse werden!«, sagte er rasch, streckte die Hand aus und berührte ihre Stirn.
Nele ließ es sich gefallen, ohne sich zu bewegen.
» Hast du keine Angst?«, fragte sie nach einer Weile. » Davor, dass der Tod in mir steckt?«
» Der Tod steckt in uns allen. Wer das nicht weiß, ist ein Dummkopf.«
Sie lachte. Seine Antwort schien ihr zu gefallen.
Ihre warme Stirn erregte ihn auf merkwürdige Weise. Er wusste nicht, ob es Verlangen oder Zärtlichkeit war, und das machte ihn unsicher. Er zog die Hand zurück.
» Wie lange muss ich hierbleiben?«, sagte sie plötzlich. » So lange, bis ich auch tot bin?«
» Das weiß ich nicht«, erwiderte er wahrheitsgemäß. » Willst du denn fort?«
» Wie lange wirst du bleiben?«, fragte sie zurück.
» Bis ich gefunden habe, wonach ich suche.« Ihr wacher, aufmerksamer Blick ließ keine Lügen zu.
» Nimmst du mich mit, wenn du weggehst?«, fragte sie.
Die Freude, die ihre Worte in ihm auslösten, überwältigte ihn.
Er öffnete den Mund und spürte, wie die Worte sich förmlich auf seine Zunge drängten.
» Warum nicht? Ich bin Jakob«, hörte er sich zu seiner eigenen Überraschung antworten. » Auf diesen Namen bin ich getauft.«
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Seine Schultern schmerzten, die Hände waren wie taub, doch die verhassten Weinfässer eigenhändig mit der Axt in Kleinholz zu verwandeln hatte Hennes sich nicht nehmen lassen. Mit dem Holz würde er ein ganzes Stück über den Winter kommen, aber das war ihm nicht das Wichtigste. Nun war endlich Platz geschaffen für seine Pelze – wie ein König war er im Gewölbe auf und ab geschritten, als wollte er jede
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