Die Pestmagd
nichts, sich in die letzte Ecke zu kauern und den eigenen Körper so fest zu umschlingen, wie sie nur konnte – die Tentakel fanden sie überall.
Längst konnte Johanna Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden, hatte jede Vorstellung verloren, ob es draußen gerade hell oder dunkel war. Die Zeit schien zusammenzuschnurren, als wären Stunden nur ein einziger Augenblick, dann aber dehnte sie sich wieder aus wie Glas, das über einer Flamme gezogen wird.
Noch schlimmer aber war die Stille, die ihr das Trommelfell aufzwang wie ein unbarmherziges Brecheisen. In jede Ritze schien sie zu kriechen, machte sich breit, bis Johanna ein Dröhnen und Brausen zu hören glaubte, das sie halb um den Verstand brachte. Sie klopfte sich auf die Ohren, schlug sich an den Kopf, bis sie keinen anderen Rat mehr wusste, als die Stirn gegen die Mauer zu schlagen, bis sie ohnmächtig wurde.
Als sie wieder zu sich kam, war der eigene Körper ihr fremd geworden, eine juckende, lästige Hülle, die sie am liebsten abgestreift hätte. Sie aß nichts, obwohl ihre Hände nach langem Suchen ein Stück Brot ertastet hatten.
Irgendwann hatte sie auch aufgehört zu trinken.
Seitdem war das Gewitter in ihrem Kopf heller geworden, ein ständiges Rumoren und Blitzen, als würden starke Kräfte sich dort entladen. Manchmal gab es eine kurze Pause, dann sah sie Bilder und Menschen aus ihrem alten Leben.
Den Oheim, der sich über sie beugte und missbilligend den Kopf schüttelte.
Vincent, jung und strahlend, der ihr aus der Fischerhütte am Rhein entgegentrat, sie hochhob wie seinen kostbarsten Schatz und fest an sich drückte.
Severin, der ihr aufs Pferd half und sie zwang, nach vorn zu schauen, bis sie Freiburg verlassen hatten.
Sabeth, die die Katze streichelte und dabei ein Wiegenlied sang.
Kinderaugen, in denen aller Schmerz der Welt lag.
Kaum hatte sie in diese geblickt, setzte erneut das furchtbare Blitzen ein, wurden Bilder und Menschen bunt durcheinandergewürfelt, als bestünden sie aus Wachs, bis sie zu einem Haufen feixender Teufelsfratzen geworden waren, die die Hände nach ihr ausstreckten, um sie in die Hölle zu zerren.
Gab es noch Rettung davor?
Sie wollte fliehen – doch die eisernen Fußfesseln hielten sie fest.
Sie wollte schreien – doch die Zunge lag dick und schwer in ihrem Mund.
Ihre Haut schien zu brennen, selbst dann noch, als sie sich mit letzter Kraft das Folterhemd abgestreift hatte. Für ein paar Augenblicke kehrte Linderung ein, dann jedoch bohrte sich das Geröll des Untergrunds wie Nagelspitzen in ihre offenen Wunden. Sie wimmerte, unfähig, sich dagegen zu wehren.
Das Band, das sie doch seit Jahren gewohnt war, schien sich immer enger um ihren Hals zu schlingen, als sei es nicht aus Samt, sondern ein lebendiges Tier, das ihr die Luft abdrückte. Mit einem Ruck riss Johanna es sich herunter.
Sollte alle Welt die Narben doch sehen und sie zur Teufelsbuhlin stempeln! Für sie kam ohnehin jede Hilfe zu spät.
Wie ein Wurm wand sie sich am Boden, als plötzlich ungewohnte Laute an ihr Ohr drangen. Schritte?
Johanna hielt inne in ihrem sinnlosen Kriechen.
Ein schwacher Schein, an den sie kaum zu glauben wagte, bis er immer näher kam. Eine Fackel?
Das Licht erlosch. Die Dunkelheit, die nun nach Johannas Herzen griff, war unerträglich.
» Nein!« Ihr wilder Schrei zerriss die Stille.
Sie schloss die Lider, krümmte sich zusammen, dem Tod näher als dem Leben.
Die Schritte kamen näher.
Noch einmal kämpfte sie sich mit letzter Kraft zurück aus ihrer Agonie, zwang sich, die Augen wieder zu öffnen.
Da war nichts, nichts außer Schwärze, Nacht und Verdammnis.
Sie rieb sich die Augen, bis sie brannten, öffnete und schloss die Lider, als sei es ein fremder Mechanismus, der nichts mit ihr zu tun hatte.
Irgendwann trat eine Änderung ein. Zarte Umrisse, eine Ahnung, nicht viel mehr als das.
Schließlich sah Johanna den Schatten.
SECHS
D u?«, flüsterte Johanna. Im flackernden Fackellicht kniff sie die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. » Welche Teufel haben dich geschickt?«
» Du lebst!« Vincent zog sie hoch. » Wie erleichtert ich bin!«
Obwohl sie sich zu wehren versuchte, streifte er ihr ein geflicktes Kleid über, in dem sie fast versank.
» Geh weg!« Sie schlug nach ihm. » Fass mich nicht an! Willst du mir das Herz noch einmal aufreißen? Ich bin doch schon halb tot!« Es klang wie ein Krächzen.
Was hätte er nicht alles entgegnen können! Dass damals mit ihr an einem einzigen Tag
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