Die Pestspur
– ungefähr siebzig Gulden verdient. Aber das ist noch nicht alles: Es ist ja nur ein Teil seiner Patienten gestorben.«
»Aber das würde doch für den Medicus sprechen«, unterbrach der Propst.
»Ihr mögt vielleicht recht haben. Aber im vorliegenden Fall sieht die Sache vermutlich anders aus. Mir ist bei den Gesprächen mit Überlebenden und Hinterbliebenen der Opfer aufgefallen, dass gerade diejenigen, die nicht zu den Ärmsten der Armen gehören und von denen man annehmen durfte, dass sie etwas Geld unter dem Strohsack versteckt haben – zwar oft erst nach deren drittem oder vielleicht sogar viertem Besuch beim Medicus, aber immerhin – geheilt worden sind. Insgesamt dürften es – vorsichtig kalkuliert – mehr als einhundert Menschen gewesen sein, die ihn konsultiert haben. Wenn wir zu den neunundsechzig Toten nun – ebenfalls vorsichtig geschätzt – dreißig überlebende Patienten hinzurechnen, kommen wir schon auf einhundert Gulden. Wenn wir dann noch berücksichtigen, dass die dreißig Überlebenden wahrscheinlich auch noch ein drittes Mal beim Medicus gewesen sind und dafür bezahlt haben, kommen wir Summa summarum auf sage und schreibe einhundertdreißig Gulden.« Er hob beschwörend den Zeigefinger. »Mindestens! … Wenn einige seiner Patienten vielleicht sogar ein viertes Mal zu ihm gekommen sind und manche von ihnen freiwillig mehr bezahlt haben, dürfte die Endsumme sogar noch höher liegen … Aber wie gesagt: Schwer zu schätzen, geschweige denn, genau zu wissen.«
»Ein lohnendes Geschäft, wenn man bedenkt, dass ich vom Grafen für meine Jahresarbeit nur einen Bruchteil davon bekomme«, entfuhr es dem nachdenklich gewordenen Kastellan.
Als der Propst anfügte, dass zwar alles logisch klang, aber letztendlich Beweise benötigt würden, wenn die gotteslästerlichen Taten gesühnt werden sollten, sagte Eginhard: »Beweise haben wir zwar recht beschissene, aber …«
»Wie bitte?«, fragte der Propst ob dieser Ausdrucksweise entsetzt.
»Na ja, das stimmt im wahrsten Sinne des Wortes. Wie mir einige erzählt und andere bestätigt haben, hat der Medicus von seinen Patienten verlangt, die Kräutersudbeutelchen sofort nach Gebrauch entweder in den Abort zu werfen oder tief im Misthaufen zu vergraben, damit sich die Seuche nicht noch weiter ausbreiten würde.«
»So ein Schwachsinn«, empörte sich der Kastellan.
»Jedenfalls lohnt es sich nicht, in der Sch… zu rühren, da die Kräutermischungen mittlerweile von den Fäkalien angegriffen und somit als Beweismaterial zerstört worden sind. Wollten wir nicht sowieso zum Medicus?«, fragte Eginhard in Richtung seines Vaters. Zu seinem ehemaligen Lateinlehrer gewandt, ergänzte er: »Und Ihr, werter Propst, geht auch mit. Ihr helft meinem Vater, den Medicus in ein Gespräch zu verwickeln und abzulenken, während ich in seiner Bahandlungsstube unauffällig nach Beweisen suche. Was haltet Ihr davon?«
»Herzlich wenig. Wollt Ihr ihn etwa aufscheuchen? Dann vernichtet er morgen auch noch die allerletzten Beweise und ist über alle Berge!«
Die Dreylings von Wagrain schwiegen, Der Propst hatte nicht unrecht. Aber was war die Alternative?
»Dann werde ich mir nachts Gewissheit verschaffen!«, sagte Eginhard trotzig. »Dieser Massenmörder muss überführt werden! Ich muss in seine Behandlungsstube. Wisst Ihr, ob er die Tür zu verschließen pflegt?«
»Wenn ja, wäre dies kein Problem, da ich in meiner Eigenschaft als Hausherr einen Schlüssel einbehalten habe. Aber Eginhard: Du wirst dich doch nicht auf eine Stufe mit Raubgesindel stellen und wirklich beim Medicus einbrechen wollen … noch dazu in einem Haus Christi?«, begehrte Johannes Glatt auf.
»Doch! Gleich morgen Nacht!«, entgegnete der Studiosus entschlossen.
Als der Propst die Ernsthaftigkeit dieser Worte erkannte und das stolze Grinsen des Kastellans sah, schlug er sogleich das Kreuz, sagte aber, da er wusste, dass er den jungen Heißsporn ohnehin nicht bremsen konnte: »Ego te absolvo! Aber ich werde nicht Zeuge dieser Tat sein. Ich hole dir jetzt gleich den Ersatzschlüssel, den du mir dann übermorgen wieder zurückgibst.« Als er mit dem Schlüssel wiederkam, machte er den Vorschlag, die Sache nicht anzugehen, wenn der Medicus schlief, sondern wenn er im Wirtshaus saß.
»Ein guter Gedanke zur rechten Zeit«, lobte der Kastellan, der sich über den ansonsten absolut gottesfürchtigen Kirchenmann wunderte.
Kapitel 39
Es war ein gewöhnlicher Wochenteiler, an dem sich
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