Die Pestspur
jedem Schlaflager drohen konnte, war ihm dies nie so richtig bewusst geworden, denn noch nie war jemand aus der eigenen Familie dem Tod so knapp von der Schippe gesprungen.
Nur der überkorrekte Siegbert tat, was er immer tat, wenn er Wache hatte: Er kontrollierte akribisch alle Eingänge und lief dienstbeflissen auf dem Wehrgang hin und her, wenn er nicht – wie jetzt gerade – von der nordöstlichen Schlossmauer Ausschau hielt, um feststellen zu können, ob im Dorf unten ebenfalls alles seine Ordnung hatte. So schweifte sein Blick gerade den Schlossbuckel hinunter, als er einen Reiter kommen sah. Siegbert war – wie immer, wenn sich Fremde dem Schloss näherten – bis in die Sehnen angespannt. Aber dieses Mal erkannte er schon von Weitem, dass es sich ›nur‹ um einen Königsegg’schen Kurier handelte, der kurz darauf um sofortigen Einlass bat. »Öffnet das Tor! Ich habe eine Depesche von Oberamtmann Conrad Speen für Euren Herrn«, schrie er pflichtbewusst mehrmals nacheinander zum Wachposten hinauf.
»Gemach, Gemach! … Ist ja schon gut. Ich hole den Verwalter dieses Schlosses!«, rief Siegbert, der schon von der Mauer heruntergestiegen war, um den übereifrigen Kurier hereinzulassen, mit stoischer Gelassenheit.
Es dauerte nicht lange, und der Kastellan hielt endlich die heiß ersehnte Antwort aus Immenstadt in Händen. Dabei war er so aufgeregt, dass sogar seine Hände feucht wurden.
»Rosalinde, du trägst Sorge dafür, dass der gräfliche Kurier Speis und Trank erhält. – Und du, Ignaz …«, wollte er eine weitere Anweisung geben, wurde aber von seinem treuen Knecht unterbrochen: »Ich weiß«, winkte dieser ab. »Ich soll sein Pferd in den Stall führen, abreiben, füttern und tränken. Soll ich auch absatteln?«
Der Kastellan überlegte kurz, bevor er antwortete: »Ja! Wahrscheinlich verfertige ich gleich eine kurze Antwort, auf die der Kurier ein Weilchen warten muss.«
Da der Bote sich im Schloss Staufen so lange wohlfühlen sollte, wie der Kastellan benötigen würde, um den Brief zu lesen, sich mit seinen Söhnen zu besprechen und eine Antwort aufzusetzen, wurde alles Nötige für ihn getan – insbesondere, da man dem Soldaten unschwer anmerken konnte, dass auch er vom ›Mistgabelmord‹ gehört hatte.
»Eginhard, Lodewig! – Kommt ihr?«
Als die drei im Arbeitszimmer saßen, brach der Kastellan das Siegel auf, entfaltete das Schriftstück und las den Inhalt laut vor.
»Aha! Jetzt ist klar, warum der Oberamtmann so lange nicht geantwortet hat. Er wollte erst den Grafen über die Sache informieren und in dessen derzeitigem Konstanzer Domizil anfragen, wie er sich verhalten solle.«
Er räusperte sich. »Wie auch immer. Jedenfalls hat unser Herr dem Oberamtmann geantwortet, dass Stadtamtmann Zwick die Untersuchung leiten und einen Gerichtstermin anberaumen soll.«
»Au weia! Dann hat der Medicus nichts zu lachen«, vermutete Eginhard, der bei seinem Besuch in Immenstadt so einiges über Zwicks Methoden in Erfahrung gebracht und ihn sogar näher kennengelernt hatte.
»Nun unterbrich mich doch nicht gleich«, schimpfte der Kastellan.
»Entschuldige.«
»Schon gut. Weiter im Text: Der Graf wollte noch nicht zusagen, selbst die Verhandlung zu leiten, zieht dies allerdings in Erwägung. Man müsse ihm nur rechtzeitig vorher Bescheid geben, damit er die anstrengende Reise vom westlichen Bodenseeufer bis ins Allgäu von seinem Marschall vorbereiten lassen könne.«
»Von wegen ›anstrengend‹«, lästerte Eginhard, der über diese Aussage nur lachen konnte, weil er wusste, dass der Graf sowohl seinen Hintern, als auch seine Füße schonen würde, indem er sich seiner mit Samtpolstern ausgestatteten Kutsche oder einer Sänfte bediente.
»Jedenfalls werde ich unseren hochverehrten Grafen endlich wieder einmal sehen! Vielleicht reist auch die Gnädige mit ins Allgäu?«, hoffte der Kastellan, der diese Neuigkeit später gleich seiner Frau sagen wollte.
»Und was schreibt Speen noch?«, fragte Eginhard interessiert.
»Wir beide sollen uns …« Der Kastellan rechnete das Datum nach, »von heute an gerechnet, in sieben Tagen melden.«
»Wo?«
»In Immenstadt! Wo genau ist hier nicht ersichtlich.«
»Das werden wir schon noch herausbekommen. Aber was wollen die von uns? Du hast ihnen doch schon alles geschrieben, ich habe ihnen persönlich alles gesagt, was ich weiß, und außerdem haben sie das ganze Beweismaterial vorliegen?«, wunderte sich Eginhard.
»Das genügt ihnen
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