Die Pestspur
Balkonbalustrade – hängen sehen.
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Die Mitglieder des Gerichts waren schon längst ins Freie getreten, als endlich der Gefangene heruntergebracht wurde. Die Treppe knarzte so, als würde sie unter der Last des Bösen, das jetzt – Stufe um Stufe – auf sie drückte, stöhnen. Als das Volk seinen Peiniger sah, war es kaum noch zu bändigen. Es kehrte erst wieder Ruhe ein, als sich der sowieso schon düstere Wirtshauseingang schlagartig verdunkelte. Dass der Henker so unvermittelt unter dem Türbogen stand, als wäre er direkt aus der Hölle emporgestiegen, ließ das Blut der Gaffer gefrieren. Dass die auf seine Leinenkapuze genähte blecherne Gesichtsmaske im Sonnenlicht gleißte, verstärkte die unheimliche Wirkung ebenso wie der plötzliche Qualm, der sich – begleitet vom lauten Fluchen der feisten Kronenwirtin – um den Vollstrecker herum seinen Weg nach außen bahnte. Erst als die Wirtin den Henker respektlos beiseiterempelte, während sie hustend aus dem Haus rannte, bekamen die Betrachter dieser Szenerie die Ursache für den Qualm und das Gefluche mit und lösten sich aus ihrer Erstarrung. Dass das als neugierig und geschwätzig bekannte Weib im Auftrag des Richters einen Braten für nach der Verhandlung in der Röhre gehabt hatte und – anstatt ihn ständig mit Fett zu bestreichen und darauf zu achten, dass er schön knusprig wurde – durch einen Schlitz in der getäferten Wand heimlich der Verhandlung beigewohnt und dabei das köstliche Fleisch hatte anbrennen lassen, löste dröhnendes Gelächter aus.
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Der Henker war rot vor Wut unter seiner Maske. Erst hatte er der Verhandlung nicht beiwohnen dürfen und jetzt auch noch das. An ›seinem‹ Tisch im Hinterzimmer der Wirtschaft hatte er auf das Ende der Verhandlung warten müssen, ohne wenigstens seinen Durst stillen zu dürfen. Und jetzt stand er da wie ein Narr. Noch nie, niemals war in seiner Gegenwart gelacht worden. Um diese Peinlichkeit wenigstens etwas zu kaschieren, blieb ihm nichts anderes übrig, als die Beine zu grätschen, die Arme zu verschränken und sich aufzupumpen, um seinem Äußeren noch mehr Volumen zu verleihen als dies ohnehin schon der Fall war. Als die Menschen den furchteinflößenden Henker so dastehen sahen, verging ihnen das Lachen schnell wieder.
Mit unehrenhaften Leuten wollten die braven Staufner Bauern nichts zu tun haben … und erst recht nicht mit einem Vollstrecker von Todesurteilen. Der Bauernstand war zwar arm, verdiente aber sein kärgliches Einkommen redlich, obwohl er auf der untersten Stufe der Ständepyramide stand. Darunter gab es noch diejenigen, die einem ›unehrlichen‹ Beruf nachgingen, wie die Schinder, Racker und Abdecker oder die unmoralischen Berufe der Huren, der Bettler, der Gaukler und Komödianten. Angehörige unehrlicher Berufe waren unterständisch, was so viel hieß, dass sie in der Hierarchie der ehrbaren städtischen Ständegesellschaft nichts zu suchen hatten.
So war es nicht verwunderlich, dass der Henker Georg Baier seine Arbeit bereits in der dritten Generation verrichtete. Es war kaum denkbar, dass ein Unterständischer aus diesem Pariazustand herausfinden würde. Nachkommen von Eltern, die einen solchen Beruf ausübten, konnten meist auch nur einen derartigen Beruf ergreifen und in solche Familien einheiraten.
Die Staufner besannen sich auf den Grund ihres Hierseins und begannen wieder, laut durcheinander zu schreien und mit allem nach dem Medicus zu schmeißen, was ihnen in die Finger kam. Obwohl der gräfliche Zeremonienmeister immer wieder versuchte, das Volk zu beruhigen, kam es jetzt so richtig in Fahrt. Der Druck über all die Monate hinweg war einfach zu groß gewesen.
»Mordbube!« – »Drecksau!« – »Zum Henker mit dir!«, flog es dem Verurteilten ebenso von allen Seiten um die Ohren wie Straßendreck.
»Was meint Ihr, werter Wagrain? Was würden Eure lieben Mitbürger wohl mit uns machen, wenn wir ihn freigesprochen hätten?«, fragte der Landrichter mit einem vielsagenden Lächeln in den Mundwinkeln.
»Die Frage ist, was sie mit dem Medicus machen würden«, entgegnete der Kastellan mit regungsloser Miene.
Dies ahnte wohl auch Heinrich Schwartz, der vor sich hin wimmerte und immer wieder um Gnade winselte.
»Man sollte ihn wie früher auf einer Kuhhaut zur Richtstätte schleifen!«, schrie Josen Bueb und warf dem Verurteilten einen Steinbrocken an den Kopf, der eine böse Verletzung über dessen rechtem Auge verursachte.
Da dies dem Richter
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