Die Pestspur
lebte. Sie nahm seine Hände in die ihren und sah ihn mit mütterlichem Blick an. »Du musst deinen Eltern schonend beibringen, dass es kaum Hoffnung gibt, Didrik jetzt noch lebend zu finden. Wir haben jeden Winkel im großen Umkreis abgesucht. Wo sollen wir jetzt noch suchen? Es ist schon dunkel, und bis morgen kann dein kleiner Bruder nicht überleben, wenn er nichts zu trinken bekommt! So schlimm es für euch und uns alle ist …« Konstanze schnaufte tief durch. »Wir müssen die Suche aufgeben.«
Der Sechzehnjährige legte seinen Kopf in Konstanzes Halsbeuge und begann lauthals zu weinen. »Warum? Was haben wir getan, dass Gott gerade uns so straft?«
Während sie so da saßen, Otward schluchzte und Konstanze seinen Kopf hielt, schälten sich zwei Silhouetten aus der einbrechenden Nacht. Na endlich, dachte Konstanze, als sie Hannß und Gunda Opser auf sich zukommen sah. Wie vermutet, waren sie nur zu zweit … aber offensichtlich immer noch voller Hoffnung.
»Ist Didrik nicht hier?«, wisperte die verhärmte Frau, die – als sie Otward in den Armen der Kastellanin sah – sofort wusste, dass ihr Jüngster nicht dabei war. Otwards Schluchzen bestätigte dies zudem auf eine grausame Art – insbesondere, als er beim Anblick seiner Eltern haltlos zu weinen begann.
»Sind die Juden noch nicht da?«, fragte die Frau des Blaufärbers mit hoffnungsvollem Blick in alle Richtungen.
Konstanze nahm sanft Otwards Kopf von ihrer Schulter und stand auf. Langsam ging sie einen Schritt auf die Blaufärber zu und sagte: »Die Bombergs sind gerade nach Hause gegangen, weil Judith bei der Höhle in Weißach durch einen wild gewordenen Keiler verletzt worden ist. Bedauerlicherweise war auch ihnen kein Erfolg beschieden.«
»An diese Höhle habe ich auch schon gedacht. Wenn aber die Bombergs dort schon nach Didrik gesucht haben, hat es keinen Sinn, dies nochmals zu tun«, antwortete der Blaufärber, der nicht wissen konnte, dass die Bombergs nur vor der Höhle, nicht aber darin gewesen waren.
Als seine Frau dies hörte, brach ihr überlasteter Kreislauf endgültig zusammen, und sie sackte völlig entkräftet zu Boden. Ihr Mann hob sie sanft auf und trug sie ins Haus.
»Das ist gut so«, bemerkte Konstanze Otward gegenüber, dessen Hände sie mit den ihren wieder fest umschlossen hielt. »So schläft sie jetzt wenigstens etwas.« Nach einer Weile der Ruhe gab sie dem jungen Mann den Rat, erst morgen mit seinen Eltern zu sprechen. »Sei stark! Gott segne dich … Gott segne euch alle.«
Kapitel 14
Als Konstanze heimkam zog sie den Kotzen aus, wusch sich die Hände und schlüpfte in ihre warmen Filzschuhe. Den fragenden Blick ihres Mannes beantwortete sie nur mit einem leichten Kopfschütteln und zusammengekniffenen Lippen, worauf der Kastellan seinem jüngsten Sohn zart übers Haupt strich und ihm mit dem Daumen unmerklich ein Kreuzchen auf die Stirn zeichnete.
»Ich bin auch noch nicht lange da«, sagte Ulrich.
»Wieso warst du so lange weg, mein Lieber?«, wollte Konstanze es etwas genauer wissen.
»Da Otto kein Pferd hat, haben wir unseren ›Raben‹ vor den Karren gespannt, um nach Immenstadt zu gelangen. Die Fahrt hat dreimal so lange gedauert wie hoch zu Ross«, antwortete der Kastellan in Gedanken daran leicht säuerlich.
Er würde seiner Frau morgen erzählen, dass der Oberamtmann nicht da gewesen war und erst noch eine Kommission zusammengestellt werden musste, bevor Otto seine Aussage machen konnte. Außerdem sollte erst der Graf in seinem Konstanzer Domizil über die Geschehnisse auf dem Staufner Markt informiert werden. Der Kastellan würde vom Oberamtmann eine Depesche erhalten, in der stünde, wann er mit Otto nach Immenstadt kommen sollte. Bis dahin wären die Staufner vor Repressalien sicher.
Kapitel 15
Das Siechenhaus nahe Genhofen war ursprünglich als leprosi in campo direkt neben der Salzstraße, unweit des gefürchteten Hahnschenkels, errichtet worden.
Da Siechenhäuser aus Angst vor Ansteckung immer vor den Toren von Städten und weit außerhalb von Orten errichtet wurden, waren sie meist ohne jegliche wirtschaftliche Versorgung von außen und mussten sich selbst erhalten. So waren sie über Jahrhunderte hinweg auf die Milde vorbeikommender Reisender angewiesen. Dies hatte sich erst geändert, als sich die Einstellung der gesunden Menschen zu den ›von Gott Gestraften‹, wie man die Aussätzigen bezeichnete, geändert hatte und Leprosenstiftungen bei den Reichen und Adligen um ihres
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