Die Pfade des Wanderers
irgendeinen Bodenriß oder in irgendein Loch im interdimensionalen Gewebe der Existenz gefallen. Dem ist jedoch nicht so.«
Jon-Tom spürte, wie die Kälte zurückkehrte. Er erinnerte sich an den Druck jener ungesehenen Augen, hörte einmal mehr jenes einzigartige wilde Heulen.
»Dann ist er also nicht zufällig dort?«
»Nein, mein Junge«, erwiderte der Hexer düster. »Er wird dort absichtlich festgehalten, ganz gezielt. Das scheint zwar unglaublich, doch so ist die Wahrheit häufig. Ich kann es selbst kaum glauben.«
»Ich kann es überhaupt nicht glauben. Nach allem, was Sie mir über ihn erzählt haben, kann ich mir nicht vorstellen, wie irgend jemand ihn einfangen oder gar festhalten kann.«
»Ich auch nicht, und doch ist mir völlig klar, daß ebendies geschehen ist. Hier ist eine gewaltige und finstere Macht am Werk. Ich könnte so etwas nicht. Etwas - jemand - hat den Wanderer eingefangen und hält ihn in diesem Raumzeitrahmen gefangen. Wenn er nicht befreit wird, könnte er nicht nur dauerhaft unsere Welt verändern, er könnte sie bei seinen Befreiungsversuchen sogar vernichten.«
»Dann könnte derjenige, der ihn festhält, ebenfalls vernichtet werden.«
»So ist es«, stimmte der Hexer nickend zu.
»Das ist doch verrückt«, meinte Jon-Tom entschieden.
»Ah! Nun beginnst du langsam zu begreifen, womit wir es hier zu tun haben.«
Den Rest ihres Aufstiegs an die Oberfläche verharrte Jon- Tom in Schweigen.
III
Er brauchte nicht sehr lange mit dem Packen. Ein sehr guter Freund hatte ihm einmal gesagt, daß man am besten reise, wenn man wenig Gepäck mit sich trage, und seitdem hatte Jon-Tom sich an diesen Rat gehalten. In dieser Welt war Geschwindigkeit wichtiger als Komfort, Flexibilität war ein besserer Gefährte als eine Hose zum Wechseln.
Er fand Sorbl im Arbeitszimmer des Hexers vor, wie dieser gerade unter Clodsahamps Aufsicht Fläschchen und Pakete einpackte.
»Ich bin fertig«, teilte er seinem Mentor mit.
»Gut, mein Junge, gut.« Clodsahamp legte eine milde Verärgerung an den Tag, als er gerade einen Schrank durchwühlte. »Wo habe ich bloß diese Meßlöffel hingelegt? Wir können sofort aufbrechen, sobald ich hier fertig bin.«
Jon-Tom lehnte sich gegen die nahe Wand. »Ich habe darüber nachgedacht, was Sie gestern sagten, als wir den Keller verließen. Über das, womit wir es zu tun haben. Wenn ich Ihre Ausführungen richtig verstanden habe, dann ist das oder der, was oder der den Wanderer gefangen hält, von labiler Natur.«
»Du hast beinahe recht.« Clodsahamp stöberte einen Satz winziger Löffel auf, die von einem leuchtenden Goldring zusammengehalten wurden, blickte selbstzufrieden drein und gab sie an Sorbl weiter. »Wer immer es ist, er ist labil; ist verrückt, bescheuert, plemplem, durchgedreht, meschugge, lebt in Wolkenkuckucksheim. Drücke ich mich deutlich genug aus, oder brauchst du noch weitere Erklärungen?«
»Nein, ich glaube, ich habe das Wesentliche verstanden«, erwiderte Jon-Tom trocken.
»Das ist auch wichtig. Es ist wichtig, daß wir alle es verstehen. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß wir mit diesem Was-immer-es-sei vernünftig argumentieren können. Es ist schwierig, gegen jemanden zu kämpfen, der sich noch nicht einmal der Tatsache bewußt sein mag, daß er sich in einem Kampf befindet.« Er zog eine große Metallkiste aus einer weiteren Schublade und öffnete den Deckel mit ungewöhnlicher Vorsicht. Jon-Tom reckte sich und konnte erkennen, daß die Kiste mit Polstermaterial gefüllt war.
Der Hexer holte eine kleine Holzkiste hervor, öffnete sie, um den Inhalt zu begutachten, der aus einem einzigen Glasfläschchen mit öliger grüner Flüssigkeit bestand. Zufrieden schloß er die Kiste und sicherte den Deckel, dann reichte er sie mit beiden Händen seinem Famulus Sorbl.
»Verstau das hier in der Mitte deines Rucksacks, und was auch immer passiert, laß es niemals fallen!«
Zaghaft nahm Sorbl den Kasten an und umschlang ihn mit seinen beiden biegsamen Flügelspitzen. »Was würde denn passieren, wenn ich es fallen ließe, Meister?«
Clodsahamp beugte sich zu seinem Lehrling vor. »Etwas so Schreckliches, so Übles, so unvorstellbar Widerliches, daß ich in den über zweihundert Jahren meines Lebens noch nicht genügend Vokabeln gelernt habe, um es zu beschreiben.«
»Oh.« Sorbl drehte sich um, um den Kasten in seinem offenen Rucksack zu verstauen. »Ich werde sehr sorgsam damit umgehen, Meister.«
Clodsahamp bewegte sich zu Jon-Tom
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