Die Pfeiler der Macht
Energie und Zuversicht ihrer neuen Aufgabe widmen, die darin bestand, Nora Pilaster in der Londoner High Society wieder hoffähig zu machen.
Solly, der sich inzwischen sein Jackett angezogen hatte, holte sie ab. Gemeinsam begaben sie sich ins Kinderzimmer. Bertie war bereits im Nachthemd und spielte mit einer hölzernen Modelleisenbahn. Jedesmal, wenn sie ausgingen, wollte er Maisie unbedingt in ihrem Abendkleid sehen und wäre sehr enttäuscht gewesen, hätte sie es einmal unterlassen, sich ihm zu zeigen. Jetzt erzählte er ihr, was er am Nachmittag im Park erlebt hatte: Er hatte mit einem großen Hund Freundschaft geschlossen. Solly ließ sich auf dem Boden nieder und spielte eine Weile Eisenbahn mit ihm. Dann war es Zeit für Bertie, ins Bett zu gehen, und Maisie und Solly machten sich auf den Weg. Ihre Kutsche war bereits vorgefahren.
Eine Dinnerparty und ein Ball standen heute auf dem Programm.
Keiner der beiden Veranstaltungsorte lag weiter als eine halbe Meile von ihrem Haus am Piccadilly entfernt, doch Maisie konnte in ihrem erlesenen Kleid keine Fußmärsche unternehmen: Saum, Schleppe und Seidenschuhe wären lange vor dem Ziel unansehnlich und schmutzig geworden. Der Gedanke, daß dasselbe Mädchen, das einmal einen viertägigen Fußmarsch nach Newcastle unternommen hatte, inzwischen keine halbe Meile mehr ohne Kutsche zurücklegen konnte, erheiterte Maisie immer noch.
Die erste Gelegenheit, mit ihrem Rehabilitationsfeldzug für Nora zu beginnen, bot sich schon kurze Zeit später. Im Salon ihres Gastgebers, des Marquis von Hatchford, lief ihr alsbald der Graf de Tokoly über den Weg. Sie kannte ihn recht gut, und da er stets mit ihr zu flirten pflegte, hatte sie keine Scheu, ihn direkt auf den Vorfall anzusprechen. »Ich möchte, daß Sie Nora Pilaster die Ohrfeige verzeihen«, sagte sie.
»Verzeihen?« erwiderte er. »Ich bin doch geschmeichelt! Wenn man in meinem Alter eine junge Dame noch so erregen kann, daß sie einem ins Gesicht schlägt, dann empfindet man das als großes Kompliment.«
Als es geschah, warst du ganz anderer Meinung, dachte Maisie. Gleichwohl war sie froh, daß er die Sache inzwischen gelassener sah.
»Hätte sie mich nicht ernst genommen«, fuhr er fort, »dann hätte ich das in der Tat als Beleidigung auffassen müssen.«
Es wäre genau die richtige Reaktion gewesen, dachte Maisie.
»Sagen Sie, hat Augusta Pilaster Sie dazu ermuntert, mit Nora anzubandeln?« fragte sie ihn.
»Eine schauderhafte Vorstellung!« erwiderte er. »Mrs. Joseph Pilaster eine Kupplerin! Nein, davon kann überhaupt keine Rede sein.«
»Steckt vielleicht jemand anderes dahinter?«
Graf de Tokoly kniff die Augen zusammen und sah Maisie an.
»Sie sind schlau, Mrs. Greenbourne, das habe ich Ihnen immer hoch angerechnet. Nora Pilaster wird Ihnen nie das Wasser reichen können.«
»Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.«
»Weil ich Sie sehr bewundere, will ich Ihnen die Wahrheit nicht vorenthalten: Der Botschafter von Cordoba, Senor Miranda, verriet mir, daß Nora - nun, sagen wir einmal - ›empfänglich‹ wäre ...«
Also so lief das ... »Und hinter Micky Miranda steckt Augusta, da bin ich mir ganz sicher. Die beiden stecken doch unter einer Decke.«
Graf de Tokoly war pikiert. »Ich hoffe doch sehr, daß man mich nicht als Mittel zum Zweck benutzt hat.«
»Menschen, deren Handlungsweise so berechenbar ist wie die Ihre, müssen immer mit diesem Risiko rechnen«, gab Maisie spitz zurück.
Am nächsten Tag nahm sie Nora mit zu ihrer Schneiderin. Während Nora eine Reihe von Kleidern aus verschiedenen Stoffen und Modestilen anprobierte, erfuhr Maisie mehr über die Hintergründe des Zwischenfalls beim Ball der Herzogin von Tenbigh. »Hat Ihnen Augusta vorher erzählt, was für ein Mensch der Graf de Tokoly ist?« fragte sie.
»Ja«, erwiderte Nora, »sie sagte, ich dürfe keinesfalls zulassen, daß er sich mir gegenüber irgendwelche Freiheiten herausnähme.«
»So waren Sie sozusagen auf ihn vorbereitet.«
»Ja.«
»Angenommen, Augusta hätte nichts gesagt - wäre Ihre Reaktion genauso ausgefallen?«
Nora dachte einen Augenblick nach, bevor sie antwortete:
»Geschlagen hätte ich ihn wahrscheinlich nicht. Das hätte ich mich einfach nicht getraut. Doch Augusta hatte mir eingeredet, es sei sehr wichtig, ihm seine Grenzen zu zeigen.«
Maisie nickte. »Da haben wir's. Sie hat diesen Vorfall provoziert. Übrigens hat ein Vertrauter von ihr dem Grafen Tokoly eingeredet, er habe mit
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