Die Pfeiler der Macht
oder bei einem anderen gesellschaftlichen Ereignis begegnen, aber bis dahin mochten Wochen vergehen - und so lange konnte Micky nicht warten.
Es war bereits kurz vor Mitternacht, als April zur Tür hereinschaute und sagte: »Er ist da.«
»Na endlich«, gab Micky erleichtert zurück.
»Er trinkt gerade noch etwas, sagt aber, daß er nicht Karten spielen will. Er wird in ein paar Minuten hiersein, schätze ich.« Mickys Nervosität wuchs. Er hatte sich in denkbar übelster Weise des Verrats schuldig gemacht. Ein Vierteljahrhundert lang hatte er Edward unter der Vorstellung leiden lassen, Peter Middleton getötet zu haben, obwohl die Schuld einzig und allein bei ihm selbst lag. Edward um Vergebung zu bitten war im Grunde ein starkes Stück.
Aber Micky hatte einen Plan.
Er befahl Henrietta, auf dem Sofa eine ganz bestimmte Position einzunehmen: sitzend, mit gekreuzten Beinen, den Hut tief ins Gesicht gezogen. Dazu sollte sie eine Zigarette rauchen. Als das Mädchen soweit war, drehte er das Gaslicht auf niedrige Flamme und setzte sich hinter der Tür aufs Bett.
Kurz darauf erschien Edward. Micky bemerkte er in der Düsternis nicht. Im Türrahmen blieb er stehen, sah Henrietta neugierig an und sagte: »Hallo - wer ist denn das?« Sie blickte auf und sagte: »Hallo, Edward!«
»Ach, du bist's!« Er schloß die Tür hinter sich und kam näher.
»Nun, was ist denn das ›Besondere‹, das April mir versprochen hat? Im Frack hab' ich dich schon mal gesehen ...«
»Das Besondere bin ich«, sagte Micky und erhob sich. Edward runzelte die Stirn. »Dich will ich nicht sehen«, sagte er, drehte sich um und ging zur Tür.
Micky stellte sich ihm in den Weg. »Dann sag mir wenigstens, warum. Nach so langer Freundschaft ...«
»Ich weiß jetzt, wie das damals mit Peter Middleton gelaufen ist.« Micky nickte. »Gibst du mir die Gelegenheit, die Sache zu erklären?«
»Was gibt's da zu erklären?«
»Ich möchte dir sagen, wie es zu diesem furchtbaren Fehler kam und warum ich nie den Mut fand, mich dazu zu bekennen.« Edward gab sich verstockt.
»Komm, setz dich doch«, sagte Micky, »wenigstens eine Minute. Hier, neben Henrietta ...« Edward zögerte. »Bitte ...«
Edward setzte sich aufs Sofa. Micky ging zum Sideboard, schenkte ein Glas Brandy ein und reichte es Edward, der es mit einem Nicken entgegennahm. Henrietta rückte eng an ihn heran und hielt seinen Arm. Edward schlürfte den Brandy, sah sich im Zimmer um und sagte: »Ich kann diese Bilder nicht ausstehen.«
»Ich auch nicht«, stimmte ihm Henrietta zu. »Wenn ich sie ansehe, kommt mir das kalte Grausen.«
»Halt's Maul, Henrietta«, sagte Micky.
»Tut mir leid, daß ich's aufgemacht habe«, erwiderte sie beleidigt. Micky setzte sich aufs Sofa gegenüber und wandte sich an
Edward. »Ich habe einen schlimmen Fehler gemacht und dich belogen«, begann er. »Aber ich war damals fünfzehn, und wir sind seit vielen, vielen Jahren eng miteinander befreundet. Willst du das alles wirklich wegen eines Schulbubenstreichs aufgeben?«
»Aber du hättest mir doch irgendwann in den letzten fünfundzwanzig Jahren die Wahrheit sagen können!« erwiderte Edward empört.
Micky setzte eine Trauermiene auf. »Das hätte ich gekonnt, ja, und ich hätte es sogar tun müssen. Aber eine solche Lüge ist nur schwer zurückzunehmen. Sie hätte unsere Freundschaft zerstört.«
»Nicht unbedingt«, sagte Edward. »Nun ja, jetzt ist es doch so gekommen - oder nicht?«
»Ja«, bestätigte Edward, doch seine Stimme verriet eine gewisse Unsicherheit.
Micky spürte, daß dies der Zeitpunkt war, um alles auf eine Karte zu setzen.
Er stand auf und streifte seinen Morgenmantel ab. Er wußte, daß er gut aussah: Sein Körper war noch immer schlank und geschmeidig und seine Haut glatt, sofern sie nicht, wie an Brust und Geschlecht, mit krausem Haar bedeckt war. Henrietta glitt sofort vom Sofa und kniete vor ihm nieder. Micky beobachtete Edward und sah Verlangen in seinen Augen aufflackern. Doch dann verdüsterte sich sein Blick, und er wandte sich trotzig ab. Verzweifelt zog Micky seinen letzten Trumpf.
»Laß uns allein, Henrietta«, sagte er.
Sie sah ihn verdutzt an, stand jedoch auf und ging.
Edward starrte ihn an. »Warum hast du das getan?« fragte er.
»Wozu brauchen wir sie?« erwiderte Micky und ging einen Schritt näher an das Sofa heran, so daß sein Geschlecht nur noch wenige Zentimeter von Edwards Gesicht entfernt war. Zögernd streckte er die Hand aus, berührte Edwards
Weitere Kostenlose Bücher