Die Pfeiler der Macht
Menschen hier.« Edward grunzte irgend etwas und schob ab, um noch ein paar Drinks zu besorgen.
Mit funkelnden Augen sah April Tilsley zu Tonio auf- einem Mann, der, wie sie sich einbildete, so reich war, daß er es sich leisten konnte, bei einer Wette zehn Guineen zu verlieren. Auch Micky Miranda beobachtete Tonio, erkannte jedoch in seiner Miene einen Anflug von Panik. Ich glaube, Tonio kann es sich nicht leisten, zehn Guineen zu verlieren, dachte er. Er ging zum Buchmacher und kassierte seinen Gewinn: fünf Shilling. Der Abend hatte sich finanziell bereits gelohnt. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, daß sich das, was er über Tonio in Erfahrung gebracht hatte, am Ende noch als wesentlich wertvoller erweisen könnte.
Mickys Verhalten hatte Hugh am allermeisten angewidert. Während des gesamten Kampfes hatte er hysterisch gelacht. Zunächst konnte sich Hugh keinen Reim daraufmachen, warum ihm dieses Lachen so unheimlich bekannt vorkam. Erst später fiel ihm ein, daß Micky damals, als Edward Pilaster Peter Middletons Kleider in den Badesee warf, genauso gelacht hatte. Es war eine unangenehme Erinnerung an ein furchtbares Ereignis aus der Vergangenheit.
Edward, erneut mit Getränken versorgt, kehrte zurück und sagte:
»Los, jetzt gehen wir zu Nellie!«
Sie leerten die Brandygläser und machten sich auf den Weg. Wieder auf der Straße, empfahlen sich Tonio und April und verschwanden in einem Gebäude, das wie ein billiges Hotel aussah.
Hugh fragte sich, ob er wirklich bei Edward und Micky bleiben sollte. Doch obwohl ihm der nächtliche Streifzug eigentlich nicht mehr gefiel, interessierte ihn, wer Nellie war und was sie zu bieten hatte. Ich wollte mich heute ganz bewußt gehenlassen, dachte er. Da wäre es albern, auf halbem Wege kehrtzumachen ... Nellies Etablissement lag in der Prince's Street, unweit vom Leicester Square. An der Tür standen zwei livrierte Dienstmänner, die, als die drei jungen Männer eintrafen, gerade einem Mann mittleren Alters mit Melone auf dem Kopf den Einlaß verwehrten. »Zugang nur mit Abendanzug«, sagte einer von ihnen. Der Mann war ungehalten und protestierte lautstark.
Edward und Micky waren den Türstehern offenbar bekannt. Der eine führte die Hand zum Hut und grüßte, der andere öffnete ihnen. Durch einen langen Gang erreichten sie eine weitere Tür. Ehe sich diese öffnete, wurden die drei Gäste durch ein Guckloch inspiziert.
Der Raum, den sie betraten, erinnerte ein wenig an den geräumigen Salon einer großen Londoner Villa. In zwei offenen Kaminen prasselte das Feuer, und überall standen Sofas, Sessel und kleine Tischchen herum. Zahlreiche Männer und Frauen in Abendkleidung waren zugegen.
Daß es sich um keinen normalen Salon handelte, wurde spätestens auf den zweiten Blick klar. Die meisten Männer hatten ihren Hut nicht abgenommen, und ungefähr die Hälfte von ihnen rauchte - was in den Salons der besseren Gesellschaft als unhöflich galt. Einige hatten auch ihre Jacketts abgelegt und die Krawattenknoten gelöst. Die Frauen waren zum großen Teil vollständig bekleidet; einige wenige schienen jedoch in Unterkleidern herumzulaufen. Manche saßen auf Männerschößen, andere umarmten und küßten männliche Gäste, und ein oder zwei gestatteten ihren Galanen noch wesentlich intimere Zärtlichkeiten. Zum erstenmal in seinem Leben befand sich Hugh Pilaster in einem Bordell. Es war ziemlich laut. Die Männer gaben derbe Witze zum besten, die Frauen lachten, irgendwo geigte jemand einen Walzer. Hugh folgte Micky und Edward quer durch den Raum. An den Wänden hingen Bilder von nackten Frauen und kopulierenden Paaren. Hugh spürte, wie ihn diese Darstellungen erregten. Am rückwärtigen Ende des Raums, unter einem riesigen Ölgemälde, das eine detailreiche Orgie unter freiem Himmel zeigte, saß der dickste Mensch, den Hugh jemals gesehen hatte - eine stark geschminkte Frau mit weit ausladendem Busen. Sie trug ein Seidenkleid, das ihre Körperfülle bedeckte wie ein purpurviolettes Zelt, und gluckte, von zahlreichen jungen Mädchen umflattert, auf einem thronartigen Sessel. Hinter ihr führte eine großzügige mit rotem Teppich ausgelegte Treppe ins erste Stockwerk, wo sich vermutlich die Schlafzimmer befanden.
Edward und Micky verneigten sich vor dem Thron, und Hugh tat es ihnen nach.
»Nell, mein Schätzchen«, sagte Edward, »gestatte mir, dir meinen Cousin, Hugh Pilaster, vorzustellen.«
»Willkommen, Jungs«, erwiderte Nell. »Kommt her, und nehmt euch
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