Die Pfeiler der Macht
halten, sich mit ihr nach den Klängen der Musik zu wiegen und zu bewegen und in harmonischer Übereinstimmung komplizierte Schrittfolgen auszuführen. »Bist du müde?« fragte er sie, als der Tanz vorüber war. »Überhaupt nicht!« Sie tanzten weiter.
Auf den Bällen der gehobenen Gesellschaft galt es als unschicklich, mehr als zweimal hintereinander mit demselben Mädchen zu tanzen. Man mußte seine Dame von der Tanzfläche geleiten und anbieten, ihr ein Glas Champagner oder ein Sorbet zu holen.
Hugh hatte sich über derartige Regeln immer geärgert, weshalb er den Tanz in den volkstümlichen Cremorne Gardens als eine Art Befreiung empfand und seine Rolle als anonymer Nachtschwärmer von ganzem Herzen auskostete.
Sie tanzten bis Mitternacht - bis die Musikkapelle aufhörte zu spielen.
Alle Paare verließen das Lokal und strömten hinaus auf die Gartenwege. Hugh fiel auf, daß viele Männer den Arm noch immer um ihre Partnerinnen gelegt hatten, obwohl sie gar nicht mehr tanzten. Nicht ohne Herzklopfen tat er es ihnen nach, und Maisie schien nichts dagegen zu haben.
Die Festtagsstimmung war einer gewissen Unruhe gewichen. Am Wegrand standen hie und da kleine überdachte Hüttchen wie Logenplätze in der Oper, wo man sitzen, etwas zu sich nehmen und die Vorübergehenden betrachten konnte. Einige dieser Hüttchen waren von Jugendlichen gemietet worden, die inzwischen betrunken waren. Einem Mann, der Hugh vorausging, wurde aus reinem Übermut der Zylinder vom Kopf gestoßen, und Hugh selbst mußte sich ducken, um nicht von einem durch die Luft fliegenden Laib Brot getroffen zu werden. Schützend zog er Maisie an sich, und zu seinem Entzücken legte sie den Arm um seine Taille und drückte ihn.
Auf beiden Seiten des Fußwegs zweigten immer wieder Pfade zu Baumgrüppchen und Lauben ab, die nun in tiefem Schatten lagen. Hugh nahm gerade noch wahr, daß auf den Holzbänken Pärchen saßen, konnte aber nicht erkennen, ob sie sich umarmten oder einfach nur nebeneinandersaßen. Als das Paar, das vor ihnen ging, unvermittelt stehenblieb und sich leidenschaftlich küßte, war er völlig verblüfft. Peinlich berührt, führte er Maisie um die beiden herum. Nach einer Weile legte sich seine Verlegenheit wieder; er war nun sehr aufgeregt. Ein paar Minuten später kamen sie wieder an einem eng umschlungenen Pärchen vorbei. Hugh streifte Maisie mit einem Blick. Sie lächelte, und er hätte schwören können, daß es aufmunternd gemeint war, aber irgendwie brachte er einfach nicht den Mut auf, sie zu küssen. Die Unruhe im Park wuchs. Sie mußten einen kleinen Umweg machen, um einer Schlägerei auszuweichen. Sechs oder sieben junge Männer hieben grölend und lallend mit den Fäusten aufeinander ein. Hugh bemerkte, daß ziemlich viele Frauen ohne Begleiter unterwegs waren, und fragte sich, ob es sich dabei um Prostituierte handelte. Die Atmosphäre wurde zunehmend bedrohlicher. Ich muß aufpassen, daß Maisie nicht zu Schaden kommt, dachte er.
Auf einmal kam ihnen eine Gruppe von dreißig oder vierzig jungen Männern entgegen, die den Passanten die Hüte vom Kopf stießen. Frauen wurden rüde beiseite gedrängt und Männer niedergeschlagen. Da die Randalierer auch auf den Rasenflächen rechts und links des Weges voranstürmten, gab es kein Entkommen. Hugh reagierte schnell. Er baute sich vor Maisie auf und kehrte den Angreifern den Rücken zu. Dann nahm er seinen Hut ab, legte die Arme um seine Begleiterin und zog sie an sich. Schon hatte die Horde sie erreicht. Eine schwere Schulter traf Hugh in den Rücken. Er geriet ins Taumeln, fing sich aber gleich wieder und ließ Maisie nicht los. Neben ihm wurde ein Mädchen zu Boden geworfen, und auf der anderen Seite erhielt ein Mann einen Faustschlag ins Gesicht. Dann waren die Randalierer vorbei.
Hugh lockerte seinen Griff und sah Maisie in die Augen. Erwartungsvoll erwiderte sie seinen Blick. Zögernd beugte er sich vor und küßte sie auf die Lippen. Sie waren wundervoll weich und beweglich. Er schloß die Augen. Darauf hatte er jahrelang gewartet. Es war sein erster Kuß - und er war genauso schön, wie er ihn sich erträumt hatte. Er atmete Maisies Duft ein. Ihre Lippen bebten sanft unter den seinen. Er wünschte sich, der Kuß möge bis in alle Ewigkeit dauern.
Es war Maisie, die den Kuß abbrach. Streng sah sie Hugh an, nur um sich dann wieder eng an ihn zu schmiegen. »Du könntest all meine Pläne zunichte machen«, sagte sie leise. Hugh wußte nicht, was sie damit
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