Die Pfeiler der Macht
Aprils winziges Zimmer in Soho mit dem Mäusenest in der Wand. Sie dachte an den Gestank, der an heißen Tagen auf dem Abtritt herrschte. Sie dachte an die Nächte ohne Abendbrot und daran, wie ihre Füße schmerzten, wenn sie den ganzen Tag durch die Straßen gelaufen war.
Sie sah Solly ins Gesicht. Wie schwer kann es sein, diesen Mann zu heiraten?
»Ich liebe dich so sehr«, sagte er. »Ich bin ganz verrückt nach dir.« Er liebt mich tatsächlich, dachte Maisie. Ich spüre es. Und genau
das ist das Problem. Ich liebe ihn nämlich nicht.
Er verdient etwas Besseres. Er verdient eine Frau, die ihn wirklich liebt, keine hartgesottene Gossengöre auf der Suche nach einer guten Partie. Wenn ich ihn heirate, mache ich ihm was vor. Und dafür ist er zu gut.
Ihr war zum Weinen zumute. »Du bist der netteste, zuvorkommendste Mann, der mir je begegnet ist ...«
»Sag nicht nein, bitte!« unterbrach er sie. »Wenn du nicht ja sagen kannst, dann sag gar nichts. Denk darüber nach, mindestens einen Tag lang. Vielleicht auch länger.«
Maisie seufzte. Sie wußte, daß sie seinen Antrag hätte ablehnen müssen, und am leichtesten wäre es, es sofort hinter sich zu bringen. Aber er hatte sie geradezu angefleht. »Ich denke darüber nach«, sagte sie. Solly strahlte. »Ich danke dir.«
Traurig schüttelte sie den Kopf. »Was immer geschehen wird, Solly: Ich glaube nicht, daß ich jemals einen Heiratsantrag von einem besseren Menschen bekommen werde.«
Hugh und Maisie fuhren mit dem Ausflugsdampfer vom Westminster Pier nach Chelsea, und zwar zum billigsten Tarif. Es war ein warmer, heller Abend. Boote, Schleppkähne und Fähren kreuzten emsig auf dem trüben Fluß. Der Kurs ihres Schiffes trug sie flußaufwärts; sie dampften unter der neuen Eisenbahnbrücke am Victoria-Bahnhof hindurch, vorbei an dem von Christopher Wren erbauten Chelsea Hospital auf dem Nordufer und den blumenreichen Battersea Fields - Londons traditioneller Duellstätte - im Süden. Die Battersea Bridge war eine windschiefe Holzkonstruktion, die aussah, als wollte sie jeden Augenblick einstürzen. Südlich davon lagen chemische Fabriken, während sich auf der gegenüberliegenden Seite hübsche kleine Häuser um die alte Kirche von Chelsea scharten und an seichten Uferstellen nackte Kinder herumplanschten.
Weniger als eine Meile jenseits der Brücke gingen sie wieder an Land und schritten das Pier hinauf, bis sie den großartigen vergoldeten Torbogen der Cremorne Gardens erreichten. Die Gärten umfaßten ein Gebiet von annähernd fünf Hektar zwischen dem Fluß und der King's Road und gliederten sich in Haine und Grotten, große Blumenrabatten und Rasenflächen, lauschige Farnpflanzungen und Buschwerk.
Als sie eintrafen, war es bereits dämmrig. In den Bäumen hingen Lampions, und Gaslampen erhellten die Pfade, die sich durch das Gelände schlängelten. Es war sehr voll: Viele junge Leute, die tagsüber bei den Rennen gewesen waren, hatten sich entschlossen, den Tag hier ausklingen zu lassen. Alle hatten sie sich fein herausgeputzt und schlenderten nun durch die Anlagen. Es wurde viel gelacht - und geflirtet. Die Mädchen sah man meist zu zweit, die jungen Männer in größeren Gruppen und die Pärchen Arm in Arm.
Das Wetter war den ganzen Tag über sommerlich warm gewesen, doch inzwischen brauten sich Wolken zusammen, und es sah nach einem Gewitter aus. Hugh war einerseits in Hochstimmung, andererseits aber auch ziemlich nervös. Es war toll, Maisie am Arm durch die Gärten führen zu können, aber das Gefühl, die Spielregeln nicht zu beherrschen, machte ihn unsicher. Was erwartet sie von mir? fragte er sich. Ob ich sie wohl küssen darf? Oder darf ich sogar noch mehr?
Er sehnte sich danach, ihren Körper zu berühren, aber er wußte nicht, wie er es anfangen sollte. Will sie vielleicht, daß ich aufs Ganze gehe? Er war zu allem bereit, aber er hatte so etwas noch nie getan und wollte sich nicht blamieren. Die Kollegen in der Bank redeten oft von leichten Mädchen und was sie mit ihnen anstellten. Hugh argwöhnte allerdings, daß vieles von dem, was sie behaupteten, reine Angeberei war. Und überhaupt: Niemand konnte Maisie wie ein leichtes Mädchen behandeln. Diese junge Frau hatte viel mehr zu bieten.
Auch die Möglichkeit, daß ihnen ein Bekannter über den Weg laufen könnte, bereitete Hugh einiges Kopfzerbrechen. Soviel war klar: Wenn die Familie Wind davon bekam, wo er sich herumtrieb, mußte er mit einer strengen Maßregelung rechnen.
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