Die Pfeiler der Macht
das Zimmer ihres Sohnes. Der Arzt klappte gerade sein Köfferchen zu. »Nichts Ernstes«, sagte er. »Die Nase wird ein paar Tage empfindlich sein, und vielleicht wird der junge Mann morgen ein blaues Auge haben. Aber in seinem Alter heilt das schnell.«
»Ich danke Ihnen, Herr Doktor. Hastead begleitet Sie hinaus.«
»Gute Nacht.«
Augusta beugte sich über Edward und gab ihm einen Kuß. »Gute Nacht, mein lieber Teddy. Und nun schlaf recht schön.«
»Ja, liebe Mutter. Gute Nacht.« Nun hatte sie nur noch eine Aufgabe zu erfüllen. Augusta stieg die Treppe hinunter und betrat das Zimmer ihres Gatten. Sie hatte gehofft, er wäre während des Wartens eingeschlafen, doch Joseph saß aufrecht im Bett und las die Fall Mall Gazette. Er legte die Zeitung sofort beiseite und hob einladend die Decke.
Kaum hatte sie sich neben ihn gelegt, da umarmte er sie auch schon. Erst jetzt fiel Augusta auf, daß der Morgen heraufdämmerte und es schon ziemlich hell im Zimmer war. Sie schloß die Augen.
Ohne viel Umstände drang er in sie ein. Sie legte die Arme um ihn und paßte sich seinen Bewegungen an. In ihrer Vorstellung war sie sechzehn Jahre alt und lag, einen Strohhut auf dem Kopf, im himbeerfarbenen Kleidchen am Ufer eines Flusses. Der junge Graf Strang küßte sie, und nur in ihrer Phantasie ließ er es dabei nicht bewenden, sondern hob ihre Röcke und liebte sie im heißen Sonnenschein, während das Wasser des Flusses ihre Füße umspielte
...
Als es vorbei war, blieb sie noch eine Weile neben Joseph liegen und dachte über den Sieg nach, den sie errungen hatte.
»Höchst ungewöhnliche Nacht«, murmelte Joseph schläfrig. »Ja«, sagte Augusta, »dieses schlimme Mädchen.«
»Mmm«, grunzte er, »eine auffällige Erscheinung ... arrogant und willensstark ... Hält sich wohl für was Bess'res. Entzückend gebaut übrigens - so wie du in dem Alter.«
Augusta war tödlich beleidigt. »Joseph! Das ist ungeheuerlich! Wie kannst du so etwas sagen?«
Er gab keine Antwort, und Augusta sah, daß er eingeschlafen war. Wütend schlug sie die Decke zurück, stieg aus dem Bett und stampfte aus dem Zimmer. In dieser Nacht fand sie keinen Schlaf mehr.
Micky Miranda bewohnte zwei Zimmer in einem Haus in Camberwell, einer bescheidenen Vorstadt im Süden Londons. Keiner seiner Freunde aus der Oberschicht hatte ihn jemals dort besucht, nicht einmal Edward Pilaster. Micky spielte die Rolle des jungen Lebemanns mit äußerst knappen finanziellen Mitteln, und zu den Dingen, auf die er noch am leichtesten verzichten konnte, gehörte eine vornehme Unterkunft.
Die Hauswirtin, eine Witwe mit zwei erwachsenen Kindern, brachte um neun Uhr morgens Kaffee und heiße Brötchen. Beim Frühstück erklärte Micky seinem Papa, wie er Tonio dazu gebracht hatte, hundert Pfund zu verlieren, die er nicht zurückzahlen konnte. Er erwartete keine Lobeshymne von seinem Vater, hoffte aber doch auf so etwas wie eine bärbeißige Anerkennung seines Scharfsinns. Papa zeigte sich indessen überhaupt nicht beeindruckt. Er pustete in die Tasse und schlürfte vernehmlich seinen Kaffee. »Er geht also nach Cordoba zurück?«
»Jetzt noch nicht, aber bald.«
»Hoffst du. Soviel Theater, und doch kannst du nur hoffen, daß er gehen wird.«
Micky fühlte sich verletzt. »Heute besiegle ich sein Schicksal«, protestierte er.
»Als ich so alt war wie du ...«
»... hätte ich ihm die Kehle durchgeschnitten. Ich weiß, ich weiß. Aber wir befinden uns hier in London und nicht in der Provinz Santamaria. Wenn du hier anfängst, anderen Leuten die Kehle durchzuschneiden, endest du früher oder später am Galgen.«
»Manchmal hat man einfach keine andere Wahl.«
»Und manchmal wählt man besser die sanfte Lösung, Papa. Denk doch bloß an Samuel Pilaster und seine sentimentalen Vorbehalte gegen Waffengeschäfte. Ich hab' dafür gesorgt, daß er uns nicht mehr in die Quere kommt, nicht wahr? Ohne Blutvergießen.« In Wirklichkeit war es Augusta gewesen, aber das brauchte Papa nicht zu wissen.
Papas Zweifel waren noch nicht verflogen. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Wann bekomme ich die Gewehre?«
Das war der wunde Punkt. Der alte Seth war immer noch am Leben und immer noch Seniorpartner des Bankhauses Pilaster. Es war August. Im September setzte in den Bergen von Santamaria die Schneeschmelze ein. Papa wollte nach Hause - natürlich mit seinen Waffen. Sobald Joseph Seniorpartner wurde, konnte Edward das Geschäft durchziehen und die Waffen auf die Reise
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