Die Pfeiler der Macht
erzählen. Wohlgemerkt, ich kann dir nicht versprechen, daß er darauf eingeht. Die Pilasters haben Geld wie Heu, aber sie sind ein gewieftes Pack. Immerhin kann ich es versuchen.«
Tonio ergriff Mickys Hände. »Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte er begeistert. »Ich werde dir das nie vergessen.«
»Erhoff dir nicht zuviel ...«
»Ich kann nicht anders. Ich war völlig verzweifelt - und du zeigst mir einen Ausweg.« Und voller Scham fügte er hinzu: »Ich dachte heute früh ernsthaft daran, mich umzubringen. Als ich die London Bridge überquerte, hätte ich mich um ein Haar in den Fluß gestürzt.«
Papa ließ ein leises Grunzen vernehmen. Seiner Meinung nach wäre dies zweifellos die beste Lösung gewesen. »Gott sei Dank hast du es dir noch einmal anders überlegt«, erwiderte Micky hastig.
»Aber jetzt mache ich mich am besten auf den Weg zur Pilaster- Bank und rede mit Edward.«
»Wann sehen wir uns wieder?«
»Kannst du zum Lunch im Club sein?«
»Ja, natürlich, wenn es dir so paßt.«
»Also warte dort auf mich.«
»Gut.« Tonio erhob sich. »Ich lasse euch jetzt in Ruhe zu Ende frühstücken. Und ...«
Micky hob die Hand und gebot ihm Schweigen. »Keine vorzeitigen Dankesbezeugungen! Das bringt Unglück. Wart's ab, und drück mir die Daumen!«
»Ja, in Ordnung.« Wiederum verneigte sich Tonio vor Papa. »Auf Wiedersehen, Senor«, sagte er und verließ das Zimmer. »Dummer Junge«, knurrte Papa. »Vollidiot«, ergänzte Micky.
Er ging ins Nebenzimmer und legte seine Vormittagsgarderobe an: ein weißes Hemd mit steifem Stehkragen und gestärkten Manschetten, eine lederbraune Hose sowie eine Krawatte aus schwarzer Seide, die er mit großer Sorgfalt band, bis sie perfekt saß. Zum Schluß schlüpfte er in einen schwarzen doppelreihigen Gehrock. Seine Schuhe funkelten frisch gewichst, und Makassaröl ließ sein Haar glänzen. Micky kleidete sich stets elegant, aber konservativ. Nie wäre er auf die Idee gekommen, einen jener modischen neuen Umlegekragen oder ein dandyhaftes Monokel zu tragen. Die Engländer waren nur allzugern bereit, in jedem Ausländer einen ungehobelten Klotz zu sehen, weshalb Micky großen Wert darauflegte, ihnen keinen Vorwand dafür zu liefern.
Er überließ Papa für den Rest des Tages sich selbst und machte sich auf den Weg.
Über die Brücke gelangte er ins Finanzzentrum der Stadt, das als »die City« bezeichnet wurde, weil es über jener Quadratmeile errichtet war, auf der einst die ursprüngliche römische Siedlung gestanden hatte. In Höhe der St. Paul's Kathedrale war der Verkehr völlig zum Erliegen gekommen: Kutschen, Pferdebusse, Brauereigespanne, Droschken und die Karren der Gemüse- und Fischhändler kämpften mit einer riesigen Schafherde, die zum Fleischmarkt in Smithfield getrieben wurde, um jedes verfügbare Fleckchen Boden.
Das Bankhaus Pilaster befand sich in einem großen neuen Gebäude mit breiter klassizistischer Fassade und einem imposanten, von massiven, kannelierten Säulen flankierten Portal. Wenige Minuten nachdem es zwölf geschlagen hatte, trat Micky durch die großen Doppeltüren in die Schalterhalle. Obwohl Edward selten vor zehn Uhr zur Arbeit erschien, konnte man ihn nach zwölf im allgemeinen problemlos zum gemeinsamen Mittagessen überreden.
Micky wandte sich an einen der Boten: »Bitte seien Sie so freundlich, und sagen Sie Mr. Edward Pilaster, daß Mr. Miranda da ist.«
»Sehr wohl, Sir.«
Es gab keinen anderen Ort, an dem Micky die Pilasters mehr beneidete als hier. Buchstäblich alles, selbst die geringste Kleinigkeit, kündete von ihrer Macht und ihrem Wohlstand: der polierte Marmorboden, die aufwendige Wandvertäfelung, die gedämpften Stimmen, das Kratzen der Federkiele in den Geschäftsbüchern, vor allem aber die überfütterten und aufgedonnerten Bankboten. Die Hauptaufgabe der vielen in diesem weitläufigen Gebäude beschäftigten Menschen bestand im wesentlichen darin, das Geld der Familie Pilaster zu zählen. Niemand in diesen heiligen Hallen züchtete Rinder, beutete Salpetervorkommen aus oder baute Schienenwege für die Eisenbahn - solcherlei Arbeiten wurden anderswo von anderen verrichtet. Die Pilasters sahen nur zu, wie sich ihr Geld mehrte und mehrte. Einen schöneren Lebensstil konnte Micky sich, da die Sklavenhaltung inzwischen abgeschafft war, nicht vorstellen.
Irgend etwas an der Atmosphäre in diesem Hause hatte allerdings einen falschen Beigeschmack. Es herrschte eine stille Würde und
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