Die Pfeiler der Macht
SIE . Das Bild war nicht sehr lebensecht, denn erstens hatte der Zirkus keinen einzigen Schimmel besessen, und zweitens waren Maisies Beine noch nie so lang gewesen - doch wenn schon: Maisie hielt das Plakat in hohen Ehren. Es war ihr einziges Erinnerungsstück an ihre
Zirkuszeit.
Ansonsten enthielt das Zimmer nur ein schmales Bett, einen Waschständer, einen Stuhl und einen dreibeinigen Hocker. Die Kleider der Mädchen hingen an Nägeln, die man in die Wand geschlagen hatte. Der Schmutz an den Fensterscheiben diente als Vorhangersatz. Die beiden bemühten sich, das Zimmer sauberzuhalten, was sich jedoch als unmöglich erwies: Durch den Kamin fiel Ruß, durch die Ritzen in den Bodendielen schlüpften Mäuse, und durch die Zwischenräume zwischen Fensterrahmen und Mauerwerk drangen Schmutz und Ungeziefer ein. Heute regnete es, und das Wasser tröpfelte vom Fensterbrett sowie aus einer undichten Stelle in der Zimmerdecke.
Maisie zog sich an. Es war Rosch ha-Schanah, das jüdische Neujahrsfest, an dem das Buch des Lebens offenstand. Um diese Zeit des Jahres fragte Maisie sich immer, was wohl für sie darin niedergeschrieben sein mochte. Im eigentlichen Sinne gebetet hatte sie nie, doch hegte sie auf eine eigentümlich feierliche Art die Hoffnung, daß auf ihrer Seite im Buch etwas Gutes stand. April war hinausgegangen, um in der Gemeinschaftsküche Tee zu kochen. Plötzlich stürmte sie, eine Zeitung in der Hand, ins Zimmer. »Das bist du, Maisie!« rief sie. »Das bist einwandfrei du!«
»Was?«
»Du stehst in der Zeitung! Hier, in Lloyd's Weekly News. Hör zu!
›Aufruf an Miss Maisie Robinson, vormals Miriam Rabinowicz. Miss Robinson wird gebeten, sich mit dem Anwaltsbüro Goldman und Jay, Gray's Inn, in Verbindung zu setzen. Es erwartet sie eine Nachricht, die nicht zu ihrem Nachteil ist.‹ Die meinen dich, Maisie, ganz sicher!«
Maisies Herz schlug schneller, aber sie setzte eine ernste Miene auf und antwortete kühl: »Das ist Hugh. Da geh' ich nicht hin.« April zog ein Gesicht. »Vielleicht hast du von einem lange verschollenen Verwandten Geld geerbt.«
»Vielleicht bin ich die Kaiserin von China. Und wenn schon. Wegen so einer an den Haaren herbeigezogenen Möglichkeit gehe ich doch nicht zu Fuß bis nach Gray's Inn.« Es gelang ihr, ihrer Stimme einen gleichmütigen Klang zu verleihen, doch in Wirklichkeit war ihr ganz und gar nicht danach zumute. Sie mußte Tag und Nacht an Hugh denken und fühlte sich seinetwegen miserabel. Sie kannte ihn kaum, aber es war ihr unmöglich, ihn zu vergessen.
Dennoch wollte sie es wenigstens versuchen. Sie wußte, daß er sie gesucht hatte. Jeden Abend war er in den Argyll Rooms gewesen, hatte mehrfach Sammles, den Mietstallbesitzer, heimgesucht und in zahlreichen billigen Mietquartieren nach ihr gefragt. Dann aber hatten die Nachforschungen plötzlich aufgehört, was Maisie zu der Annahme verleitete, er habe aufgegeben. Wie es schien, hatte er sich aber nur eine andere Strategie einfallen lassen und versuchte jetzt, über Zeitungsannoncen mit ihr in Verbindung zu treten. Wenn er weiterhin so hartnäckig blieb, würde es auf die Dauer sehr schwer sein, ihm aus dem Weg zu gehen, zumal sie sich so sehr nach ihm sehnte. Aber Maisie hatte sich zu einer Entscheidung durchgerungen, und an der hielt sie fest: Sie liebte ihn zu sehr, als daß sie ihn in den Ruin treiben wollte. Sie schlüpfte mit den Armen in ihr Korsett.
»Hilf mir bitte mal«, sagte sie zu April.
Die Freundin begann, die Schnüre festzuziehen. »Mein Name stand noch nie in der Zeitung«, sagte sie neidisch. »Deiner stand schon zweimal drin, wenn du ›die Löwin‹ als Name zählst.«
»Und was hab' ich davon gehabt? Oje, ich werde ja immer dicker.«
April band die Schnüre zu und half Maisie ins Kleid. Sie wollten am Abend ausgehen. April hatte einen neuen Liebhaber, einen Zeitungsredakteur mittleren Alters aus Clapham. Er war verheiratet und hatte sechs Kinder. Er und ein Freund von ihm hatten April und Maisie in ein Variete eingeladen.
Bis es soweit war, wollten sich die beiden in der Bond Street noch die Auslagen der schicken Modegeschäfte ansehen. Kaufen wollten sie dort nichts. Um sich vor Hugh zu verbergen, war Maisie gezwungen gewesen, ihre Arbeit bei Sammles aufzugeben, was Sammles sehr bedauerte, denn sie hatte fünf Pferde und ein Ponygespann verkauft. Ihre Ersparnisse gingen inzwischen rapide zur Neige. Aufs Ausgehen wollten die beiden aber trotz des schlechten Wetters nicht verzichten -
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