Die Pfeiler des Glaubens
weiterhin jeden Tag in die Sierra. Er sagte nichts mehr, verstummte, schwor nicht einmal mehr Rache!
»Er wird es verkraften«, sprach Aischa sich täglich Mut zu. »Er hat eine gute Arbeit. Er ist ein angesehener Mann. Er ist der beste Bereiter im königlichen Marstall. Abbas sagt das, alle Welt bestätigt das. Es gibt viele junge Frauen, die nur zu gern so einen Mann heiraten würden. Eines Tages wird er wieder glücklich sein.«
Doch irgendwann begriff Aischa, dass ihr Sohn nicht aufhören würde, seine tote Familie zu suchen. Aischa spürte eine unerträgliche Beklemmung: Sie hatte ihn nicht nur belogen, sondern zudem zugelassen, dass er sich all die Zeit derart quälte. Sollte sie doch … Wie würde Hernando auf die Wahrheit reagieren? Er war ein Mann, und noch dazu war er ein Mann im Wahn. Was sollte sie tun? Bei der Vorstellung, wie sehr Hernando sie hassen könnte, erschienen ihr Ibrahims Prügel im Rückblick geradezu milde. Hernando war ihr Sohn! Er war das einzige Kind, das ihr geblieben war! Sie konnte es sich nicht mit ihm verderben!
Die bleierne Hitze lähmte noch immer das Land. Aischa verließ Córdoba frühmorgens durch die Puerta del Colodro. In der Hand hielt sie ein Bündel. Sie machte sich zu Fuß auf den Weg zum Gasthof Montón de la Tierra, und beim Anblick der Venta überwältigte sie die Verzweiflung. Was, wenn es ihr nicht gelänge? Was, wenn … Dann würde sie sich das Leben nehmen.
Aischa versuchte sich an die schreckliche Nacht im Patio des Gasthauses zu erinnern. Nachdem Ibrahim seine Wut an dem Monfí ausgelassen hatte und mit Fatima in seinem Zimmer verschwunden war, hatten die Soldaten das Gasthaus mit Ubaids Leiche verlassen. Aischa versuchte sich zu konzentrieren, aber immer wieder drängte sich Fatimas flehender Blick in ihre Erinnerung, mit dem sie sie bat, Hernando nichts von all dem zu erzählen.
Aischa blieb am Wegrand stehen, sie führte die Hände zum Gesicht und begann zu weinen. Hernando! Shamir! Fatima und die Kinder!
Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte. Dies war ihre einzige und letzte Chance.
»Die Männer des Marquis!«, flüsterte sie.
Sie waren nach kurzer Zeit in den Gasthof zurückgekehrt. Aischa meinte sich daran zu erinnern, dass sie weder Spaten noch andere Werkzeuge mitgenommen hatten. Ubaids Leiche konnte also nicht allzu tief vergraben sein. Sie blickte sich suchend um. Wo hatten sie ihn wohl begraben? Sie versuchte sich wieder in diese fürchterliche Nacht zurückzuversetzen. Dann sah sie zur glühenden Sonne hinauf.
»Seid ihr sicher, dass ihn niemand finden wird?« Diese Worte des Lakaien klangen in ihren Ohren, als stünden die Männer hier vor ihr. »Ihr wisst ja, Seine Hoheit wünscht, dass die Leiche verschwindet. Niemand darf erfahren, dass nicht der Monfí den Überfall …«
»Keine Sorge«, hatten die Soldaten sorglos geantwortet. »Dort, wo wir ihn hingelegt haben …«
Hingelegt! Sie hatten » hingelegt « gesagt! Aischa ging mit rasendem Herzen um den Gasthof herum und suchte zwischen dem Gestrüpp nach Ubaids Leiche. Sie wühlte den ein oder anderen Haufen trockener Erde auf und grub mit dem kleinen Spaten aus ihrem Bündel in einer scheinbar frischen Anhäufung herum, die ihr wie ein Grabhügel vorkam. Die Sonne hatte ihren Zenit überschritten, und die Hitze lag schwer über dem ausgedörrten Land. Aischa war schweißgebadet. Da entdeckte sie einen ausgetrockneten Bewässerungskanal. Sie folgte seinem Lauf, und nach wenigen Augenblicken sah sie in einiger Entfernung, dort wo der Graben einen anderen kreuzte, einen Steinhaufen. Konnte es sein, dass …? Sie eilte sofort hin, kniete nieder, schob einige Steine hastig beiseite, und als sie ein wenig in der Erde darunter stocherte, wurde sie beim plötzlich aufsteigenden Gestank fast ohnmächtig. Sie hatte den Monfí gefunden!
Aischa wischte sich den Schweiß von der Stirn, richtete sich auf und blickte um sich. Um diese Zeit war niemand in der sengenden Hitze unterwegs. Kurz darauf hatte sie Ubaids Leiche freigelegt: Das Herz, das Ibrahim ihm herausgerissen hatte, lag in der Bauchhöhe obenauf. Bei diesem Anblick musste Aischa erneut gegen einen Würgreiz ankämpfen. Dann holte sie Fatimas weißes Tuch – das Hochzeitsgeschenk von Karims Frau – aus ihrem Bündel, küsste es zärtlich und rieb es über die trockene Erde. Sie hatte es am Tag nach der Entführung im Haus gefunden. Ihre christlichen Nachbarn hatten dieses scheinbar so wertlose Stück Stoff unter
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