Die Pfeiler des Glaubens
doch die traurigen Seufzer erinnerten ihn plötzlich an seine Geschwister: Aus Furcht vor Schlägen hatten sie nachts immer genauso unterdrückt geschluchzt, damit ihre Eltern sie nicht hörten. Miguel näherte sich der Stallmauer. Dort jammerte jemand ganz erbärmlich. Das Weinen war jetzt deutlich zu hören, es war herzzerreißend, wie damals das Wimmern seiner Geschwister … und sein eigenes.
»Was ist mit dir?« Er vermutete, dass die helle, gequälte Stimme einem Mädchen gehörte.
Miguel erhielt keine Antwort. Er hörte nur, wie jemand die Nase hochzog und sich bemühte, ein Stöhnen zu unterdrücken, aus dem zu Miguels Leidwesen erneut ein unaufhaltsames Schluchzen wurde.
»Weine nicht«, wollte Miguel dem Mädchen auf der anderen Mauer seite gut zureden. Vergeblich.
Er sah zum sternenklaren Himmel über Córdoba hinauf. Wie alt seine blinde Schwester inzwischen wohl sein mochte? Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie fünf oder sechs Jahre alt gewesen. Alt genug, um festzustellen, dass ihr Leben ein anderes war als das der Kinder, die lachend durch die Straßen lärmten. Miguel wisperte dem Mädchen auf der anderen Seite die gleichen Worte zu, mit denen er seine Schwester damals zu trösten versucht hatte – in der Dunkelheit der feuchten, ekelerregenden Absteige, die sie sich mit ihren Eltern teilen mussten.
»Sei nicht traurig. Weißt du was? Es war einmal ein blindes Mädchen«, begann er seine Erzählung und erinnerte sich wehmütig an die allererste Geschichte, die er für seine kleine Schwester erfunden hatte. »Es streckte die Arme aus und sprang in die Höhe, um den wunderbaren Sternenhimmel zu berühren. Alle sagten, er befinde sich über ihren Köpfen, doch sie konnte ihn nicht sehen …«
So verging der erste Abend an der Mauer, dem weitere folgten: Miguel erzählte seine Geschichten, und das Mädchen auf der anderen Seite ließ sich von seiner Stimme in Bann ziehen und vergaß für diese Zeit ihr Unglück.
»Du bist der …«, flüsterte sie eines Abends.
»… der Krüppel«, bestätigte Miguel und seufzte.
Einige Tage später trafen sie sich. Miguel lud sie ein, sich die jungen Pferde anzusehen. Er hatte ihr bereits unzählige Geschichten über die beiden Tiere erzählt. Rafaela schlich heimlich durch eine kleine, selten benutzte Tür aus dem Nachbarhaus in die Gasse, die am Stalltor vor Hernandos Wohnhaus endete. Miguel biss sich nervös auf die Unterlippe und erwartete sie auf seine Krücken gestützt. Rafaela war etwa sechzehn Jahre alt. Ihr langes Haar fiel ihr in leichten Locken über die Schultern, sie hatte sanfte Augen, schmale Lippen und eine zierliche Nase. In dieser Nacht offenbarte sie ihm endlich den Grund für ihren Kummer: Ihr Vater, der Jurado Don Martín Ulloa, war nicht wohlhabend genug, um seine beiden Töchter mit einer angemessenen Mitgift auszustatten und gleichzeitig für die hohen Ausgaben seiner beiden eitlen Söhne aufzukommen.
»Sie halten sich für Hidalgos«, sagte Rafaela wütend, »dabei sind sie nur die Söhne eines Nadelmachers, dessen Vater sich das Amt eines Jurados erschlichen hat. Trotzdem tun mein Vater, meine Geschwister und sogar meine Mutter so, als wären sie adelig zur Welt gekommen.«
Deshalb hatte Don Martín entschieden, seine Erstgeborene – die scheue, zurückhaltende Rafaela, die ohnehin keine gute Partie machen würde – ins Kloster zu geben. So konnte er ihre jüngere, hübschere Schwester besser verheiraten. Doch der Jurado verfügte nicht einmal über die nötige Summe, um Rafaelas Eintritt ins Kloster zu bezahlen. Die junge Frau befürchtete, sie werde im Orden deshalb selbst keine Nonne werden, sondern lediglich in den Dienst einer wohlhabenden Nonne kommen: der einzige Ausweg für eine unverheiratete fromme Christin aus einfachen Verhältnissen.
»Ich habe gehört, wie mein Vater und meine Geschwister darüber gesprochen haben. Meine Mutter war auch dabei, aber sie hat kein Wort zu dem Geschacher gesagt. Wenn nur einer von ihnen mit der Geldverschwendung aufhören würde … und mich behandeln sie seither wie eine Pestkranke!«
Miguel bemerkte sehr wohl, wie sich die sonst so widerspenstigen jungen Pferde von Rafaela streicheln ließen und begierig ihrem sanften Flüstern lauschten. Plötzlich fehlten ihm zum ersten Mal die Worte, um wie gewohnt seine Geschichten zu erzählen. Er sehnte sich nur noch nach ihrer Nähe und ihrer Umarmung – doch wie sollte er sie mit seinen hässlichen, verkrüppelten Beinen für
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