Die Pfeiler des Glaubens
großer, schlichter weißer Marmorsarg, bei dem man auf prunkvolle Inschriften, Zeichnungen oder Verzierungen verzichtet hatte. Nur ein steinernes Band, an dessen beiden Enden Drachen zu erkennen waren, lief quer über den Deckel. Durch das Eisengitter hindurch war lediglich die eine Hälfte des Sarges zu sehen, die andere Hälfte lag hinter der Mauer verborgen. Hernando sah immer wieder zu Amin. Der Junge wirkte keineswegs aufgeregt. Er stand stolz und gelassen neben ihm, flüsterte das Vaterunser und betete ein Ave-Maria nach dem anderen. Viele Gläubige, Geistliche und Mönche zogen an ihnen vorbei. Vielleicht war es doch Wahnsinn. Vor so vielen Menschen!
Für Zweifel blieb nun keine Zeit mehr. Wie gewohnt kam der für die Capilla de San Pedro zuständige Geistliche und schloss die in das Gitter eingelassene schmiedeeiserne Tür auf, um den Gottesdienst vorzubereiten. Hernando zögerte. Er sah sich um: Miguel lächelte ihm aufmunternd zu. Da nickte Hernando. Es konnte losgehen.
»Gott!«, schallte es plötzlich durch die Gebetshalle. Alle Leute blickten zu dem verkrüppelten Mann, der auf einmal aufgeregt auf seinen Krücken tanzte. »Da war er! Ich habe ihn gesehen!«
Mehrere Kirchenbesucher drängten sich um Miguel, der einen verzückten Schrei nach dem anderen ausstieß. Hernando hingegen sah abwechselnd zu seinem Freund und dem Geistlichen in der Capilla de San Pedro, der seinerseits erstaunt das Schauspiel verfolgte.
»Sein gütiges Gesicht befand sich hinter einer weißen Taube«, kreischte Miguel, und ein Raunen ging durch die umstehenden Gläubigen.
Hernando musste lächeln. Die Leichtgläubigkeit der Leute war doch immer wieder erstaunlich. Eine Greisin fiel auf die Knie, bekreuzigte sich.
»Ja! Da ist es! Ich sehe es!«, rief sie entzückt.
Nun fielen andere jubilierende Stimmen ein, die Miguel sogar noch übertönten. Die Leute knieten mit dem Rücken zur Capilla de San Pedro und starrten gebannt auf die Kuppel der Capilla Mayor, dorthin, wo Miguel behauptete, eine weiße Taube gesehen zu haben. Jetzt eilte endlich auch der Priester aus der Kapelle, und er war beileibe nicht der einzige Geistliche, der mit flatterndem Talar auf die Menge zulief.
»Jetzt«, flüsterte Hernando seinem Sohn zu.
Gleich darauf schlüpften sie leise durch die offene Gittertür und standen in der Kapelle. Hernando ging zum Kopfteil des Sarkophags des Statthalters, der vor den Blicken der Passanten verborgen hinter der Wand lag. Der Sarkophag war zwar nicht versiegelt, wie er am Vortag befürchtet hatte, doch als er zum Brecheisen griff und es unter den schweren Marmordeckel schieben wollte, erschien ihm sein Vorhaben plötzlich als ein Ding der Unmöglichkeit. Er wickelte schnell die Säume seiner Kleidung um den Griff des Werkzeugs, um den Lärm zu dämpfen. Dann fing er an, das Brecheisen mit dem Hammer zwischen den Deckel und den Sarkophag hineinzutreiben. Marmor bröckelte, doch schließlich konnte er das Eisen zum Spreizen einführen. Er stemmte sich mit seinem ganzen Gewicht darauf. Hinter ihm herrschte nach wie vor große Aufregung. Aber der Deckel war zu schwer, Hernando schaffte es nicht. Da verfluchte er sein Alter: Er war nun sechsundfünfzig Jahre alt, ein Greis, der sich einbildete, die mächtige Abdeckung eines Sarkophags anheben zu können. Amin wartete ruhig neben ihm, die Blätter in der Hand.
»Allahu akbar!«, murmelte Hernando und versuchte es mit aller Kraft erneut, aber der Deckel gab nicht nach. Amin verfolgte aufmerksam die Anstrengungen seines Vaters.
»Allahu akbar«, flüsterte dann auch der Junge.
»Allmächtiger, der du Kraft verleihst«, flehte Hernando, »der du stark und fest bist, hilf uns!«
Und tatsächlich: Der Deckel hob sich einen Fingerbreit.
»Leg sie hinein!«, forderte er seinen Sohn mit vor Anstrengung verzerrtem Gesicht auf.
Amin schob nacheinander kleine Stapel Papier hinein, denn alles auf einmal passte nicht durch den schmalen Spalt.
»Mach weiter!«, keuchte Hernando. »Schnell!«
Es fehlten nur noch wenige Blätter, aber außer Miguels Rufen in seiner scheinbaren Verzückung war plötzlich nichts mehr zu hören. Ihnen lief die Zeit davon!
»O Vater!«, erklang nun eine Stimme in einiger Entfernung.
Hernando hätte beinahe den Deckel hinunterkrachen lassen, und Amin schob keine weiteren Blätter mehr nach: Es war Rafaelas Stimme!
»O Vater!«, konnte man die Stimme wieder hören, jetzt fast am Eingang der Kapelle.
Rafaela kniete vor dem Priester, der zu
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