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Die Pflanzenmalerin

Titel: Die Pflanzenmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Davies
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noch verbliebener Gefährte schulterten ihre Lasten und machten sich auf ins leise Crescendo des Waldes.
    Keiner von beiden kannte das Terrain, und keiner von beiden wusste so recht, wohin sie wollten. Ihr Unwissen machte Leichtes zehnmal schwieriger, als es hätte sein müssen, und Schwieriges unmöglich. Die Eingeborenen - die ihnen hätten helfen können - mieden sie bewusst, und es schien, als suchten sie sich für ihre Route die unwegsamsten Teile des Waldes aus. In den ersten vier Wochen legten sie hundert Meilen zurück, aber aus dem Tagebuch meines Großvaters geht eindeutig hervor, dass sie in Schlangenlinien wanderten und nur unter gewaltigem Kraftaufwand vorwärtskamen. Sie drangen in unkartierte Urwaldzonen vor, und die Positionsbestimmungen meines Großvaters wurden mit jedem Tag lückenhafter. Sie gelangten an einen Fluss, den sie mit einem anderen verwechselten, und folgten seinem Lauf drei Wochen lang durch dichtes Gestrüpp. Dann, als das Chinin zur Neige ging, entfernten sie sich vom Wasser und suchten höher gelegenes Gelände auf. So ging es die nächsten vier Wochen weiter. Die Tagebucheinträge brechen ab, als hätte mein Großvater das Schlimmste schon gewusst. Sie bewegten sich zunehmend im Kreis, und man weiß nicht einmal, ob sie dabei voranzukommen glaubten oder ob es sich um einen verzweifelten Versuch handelte, den Weg zurückzugehen, den sie gekommen waren. Es war auch einerlei. Sie hatten sich verirrt und waren mit ihren Kräften am Ende. Ihre Vorräte waren fast aufgebraucht. Mein Großvater fieberte wieder. Und nirgends ließ sich ein Pfau blicken.
    Drinnen zeigte ich Katya das Foto auf meinem Nachttisch.
    »Meine Tochter«, sagte ich. »Sie war damals ein knappes Jahr alt. Fünf Wochen nachdem die Aufnahme gemacht wurde, ist sie gestorben.«
    Wir saßen in meinem unaufgeräumten, gemütlichen kleinen Zimmer auf dem Bett; unsere Knie und Ellenbogen berührten sich.
    »Das tut mir so Leid.« Sie hielt das Bild sacht zwischen den Fingerspitzen.
    »In Brasilien gibt es hunderterlei Dinge, an denen ein Kind sterben kann. Aber für mich brach eine Welt zusammen.«
    Sie berührte meine Hand, und so fuhr ich fort: »Ich wollte, dass wir weggehen, dass wir hierher zurückkommen. Ich konnte einfach nicht weitermachen, als wäre nichts geschehen. Aber Gabriella hat sich in ihrer Arbeit vergraben. Vermutlich hat sie sie damals mehr denn je gebraucht, gerade als ich jegliches Interesse daran verloren hatte.«
    Einen Moment lang sah ich mich wieder dort: das einfache Zimmer, die Fenster halb mit einem schmutzigen Netz bespannt, ein Ventilator, der sich endlos drehte, aber nichts bewirkte. Der Schweißgestank. Das kleine Bett, leer, in den Laken noch der Abdruck eines Kinderkörpers. Und unten Gabriella, die mit tonloser Stimme regelte, was geregelt werden musste.
    »Dann hast du sie verlassen?«
    »Ich war ihr im Weg. Egal, was sie tat, ich sah in allem nur einen Beweis dafür, dass sie nicht genug trauerte. Das war ungerecht, ich weiß, aber so war es eben. Es kam fast so weit, dass wir uns hassten. Schließlich einigten wir uns darauf, dass ich fortmusste.« Ich betrachtete das Foto und fühlte wieder das ganze Ausmaß der Leere. »Wir nannten sie Celeste, nach Gabriellas Mutter. Das Bild ist alles, was von ihr geblieben ist. Außer unseren Erinnerungen. Wenn Gabriella und ich tot sind, ist nur noch das Foto da. Und dann gar nichts mehr.«
    Wir schwiegen eine Weile, dann sagte Katya: »Und da hast du angefangen, ausgestorbene Vögel aufzuspüren?«
    »Ja.« Ich brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Erscheint heute alles ein bisschen durchsichtig, was? An den Dingen hängen. Nicht loslassen wollen. Aber damals war’s nicht so.«
    »Und Gabriella?«
    »Sie hat mit ihrer Arbeit weitergemacht. Sie ist mit dem Problem umgegangen wie ein erwachsener Mensch, nehm ich an. Während ich nur auf alles wütend war. Drei Jahre hat das gedauert. Am Ende war ich zu erschöpft, um noch wütend zu sein, und so bin ich hierher zurück und habe damit begonnen, Vögel auszustopfen.« Ich zeigte in die Zimmerecke. »Ich hab die Aufzeichnungen für das Buch in die Kiste da gepackt und ein neues Leben angefangen. Jetzt bin ich nicht mehr wütend. Ich glaube, ich empfinde nicht einmal mehr Schmerz. Es tut mir nur so unendlich Leid, dass sie keine Chance hatte, groß zu werden. Es gibt so viel Schönes auf der Welt, das sie nie sehen wird.«
    »Und du und Gabriella, ihr habt euch bis jetzt nie mehr wieder

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