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Die Pflanzenmalerin

Titel: Die Pflanzenmalerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Davies
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Sie war fort. Er öffnete die Faust wieder und balancierte das Papierknäuel einen Augenblick auf der Handfläche. Sie war fort, aus Gründen, an denen kein Argument seinerseits etwas ändern würde. Nicht seinetwegen, sondern um ihrer selbst willen - weil sie fortmusste. Vielleicht hätte er sie überreden können zu bleiben. Der Käfigvogel wird stets ein wenig den Himmel fürchten. In ihrem kleinen Zeichenraum aber spürte er die Begrenzungen ihres Lebens, Begrenzungen, die er selbst nie kennen und die er wohl auch nie wieder so klar sehen würde wie in diesem Moment.
    Er war nach Richmond gekommen, um sie aufzuhalten. Als er sich aber am Abend den Lichtern Londons näherte, begann er zu begreifen, was ihre geistige Unabhängigkeit, die ihn immer so fasziniert hatte, in Wahrheit bedeutete. Sie unterschied sie von anderen Frauen, doch er hatte sie stets eher als etwas Äußerliches betrachtet, wie das Gefieder eines Vogels. Jetzt erkannte er, dass sie mehr war. Sie wohnte tief in ihrem Innern, war Teil dessen, was ihr Wesen ausmachte. Vielleicht war die Luft an diesem Abend ungewöhnlich klar. Vielleicht hatte das Verliebtsein Samen gesät, die im Sternenschein dieses Abends keimten und aufgingen. Voll innerer Gelassenheit ritt er dahin, und ein Verstehen war in ihm, das, wie er glaubte, nie wieder weichen würde.
    Er entschloss sich, ihrem Beispiel zu folgen. In den vergangenen Monaten hatte er begonnen, das Verdammungsurteil der Gesellschaft und Cooks Missbilligung, am meisten aber wohl das Scheitern seiner eigenen Ambitionen zu fürchten. Um all das zu verhindern, war er bereit gewesen, die Hoffnungen zu enttäuschen, die er selbst in ihr genährt hatte. Doch als er jetzt sein Pferd in Galopp setzte, wurde ihm klar, dass allein ihr Urteil über ihn zählte. Sollten ihre Pläne fehlschlagen, dann nicht durch seine Feigheit. Er würde dafür sorgen, dass sie gelangen.
    In jener Nacht in der New Burlington Street lauschte er den stündlichen Glockenschlägen und dachte an sie. Sie hatten diese Nacht zusammen verbringen wollen, und da er nun allein war, schlief er kaum. Im zerklüfteten Grenzbereich zwischen Schlafen und Wachen kamen und gingen Bilder von ihr: erst auf Deck, wie sie in ihren Männerkleidern aufrecht dastand und Regen und salzige Gischt ihr Gesicht peitschten, dann im Dunkel ihrer Kabine, wie sie sich im Kerzenschein entkleidete, Knopf um Knopf löste. Die Vorstellung, wie sie auf Madeira ankam und in der üppigen tropischen Hitze auf ihn wartete, begann ihn zu erregen, die Vorstellung, wie er die ruhige Männergestalt in der Öffentlichkeit grüßen, wie sie die Rituale des erneuten Kennenlernens durchlaufen, sich zu einer Flasche Wein an privatem Ort verabreden würden - vielleicht in ihrem Zimmer, wo er dann bei verschlossener Tür den Finger an die Lippen legen und bei jedem Knopf, bei jedem Band verweilen würde, bis er ihre nackte Haut unter seinen Händen spürte. Er dachte an die Kabine, die an Bord der Resolution auf sie wartete, und schwor sich von neuem, für das Gelingen des Plans zu sorgen.
    Doch mit dem Morgen kam eine Nachricht, die sein Leben verändern sollte. Das Flottenamt hatte Zweifel an der Seetüchtigkeit der Resolution angemeldet, und der Lotse, der sie aus der Themse hinausleitete, war über ihre Schwerfälligkeit so beunruhigt, dass er sich weigerte, sie über den Nore hinauszuführen - sie sei instabil und seeuntüchtig. Die Admiralität hatte seine Einwände akzeptiert, und die Ausbauten für Banks’ Leute mussten rückgängig gemacht, die zusätzlichen Kabinen abgerissen werden. Seine Träume vom Abend zuvor erwiesen sich bei Licht besehen als die Fantastereien, die sie waren. Als er die Resolution das nächste Mal sah, war die dunkle Kabine, an die er so oft gedacht hatte, nur noch ein unordentlicher Stapel Kleinholz in einem Dock in der Flussmündung.
     
    Nichts hatte sie auf all das Fremde vorbereitet. Sie wusste nichts über das Meer, nichts über Schiffe und sehr wenig über die Männer, die darauf arbeiteten. Und schlimmer noch: Sie musste erkennen, dass sie auch nichts darüber wusste, wie Männer mit anderen Männern umgingen. Sie waren grob, und ihre Sprache war vulgär; am meisten aber beunruhigte sie der Verlust körperlicher Distanz. Es war, als wäre ein unsichtbarer Sperrgürtel, der sie ihr Leben lang umgeben hatte, weggerissen worden, sodass Fremde sie nun mit größter Selbstverständlichkeit streifen oder berühren durften. Das Gedränge und Geschiebe,

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