Die Pforten der Ewigkeit
Sonne an dem Platz meinte, an dem Guda stehen geblieben war. Es schien vielmehr, dass sie von der Abwesenheit von Licht sprach, und Guda wusste plötzlich, dass es genau das war, was sie fühlte. Sie selbst hätte es niemals benennen können. Die Schwester hatte mit einem einzigen Satz den Finger in Gudas Wunde gelegt: Aus ihrem Leben war das Licht geschwunden. Etwas wrang ihr Herz und ließ sie erneut schlucken, und es tat weh, als drücke ihr jemand die Kehle zu.
Die Schwester kam durch die Streifen aus Sonnenlicht und Schatten auf sie zu, ihre Tunika leuchtete auf, wenn das Licht darauf fiel, und schien weiterzuschimmern, wenn sie unter den Baumkronen der Obstbäume hindurchging. Der Saum des Ordensgewandes ließ die Herbstblätter auffliegen, die den Weg vom Tor zum Eingang der Ruine des Klosterbaus bedeckten.
Wo das Tor gewesen wäre, verlief etwas wie eine unsichtbare Grenze. Die Schwester blieb jenseits der Grenze stehen, Guda diesseits. Die junge Frau hatte hellblaue Augen. Guda starrte in sie hinein und hatte das Gefühl, in die Augen eines Engels in einem der Glasfenster des Doms in Papinberc zu blicken, den sie einmal besucht hatte und dessen schiere Größe und Pracht noch heute in ihren Träumen widerhallte. Der Engel in dem Fenster hatte Augen aus blauem Glas besessen, und wenn man in sie hineingesehen hatte, hatte man eigentlich in das Licht geschaut, das von draußen hereinfiel und das durch die Engelsaugen leuchtete. An diesem Tag hatte sie verstanden, was es tatsächlich bedeutete, dass Engel Boten des Lichts waren – sie waren wie ihr geflügeltes Abbild im Glas nur der Träger für die göttliche Erleuchtung. Oh, in diesem Licht leben zu können , dachte sie und verstand dann noch etwas, nämlich wie es sein konnte, dass Menschen die Freiheit und die Selbstbestimmung und das Leben in der Welt aufgaben, weil sie fühlten, dass innerhalb von Klostermauern dieses Licht heller leuchtete als draußen, und sie verstand auch, wie Menschen, die an dieses Licht glaubten, lieber auf den Scheiterhaufen stiegen, anstatt ihm zu entsagen. Sie fühlte die Tränen hinter ihren Lidern brennen und drängte sie zurück.
Die blauen Augen der jungen Nonne blinzelten nicht, während ihre Blicke und die von Guda ineinander versanken. Sie spürte das Lächeln auf dem Gesicht ihres Gegenübers mehr, als dass sie es sah, genauso wie sie spürte, dass ihre seit Wochen wie erstarrten Züge plötzlich ebenfalls versuchten, sich in einem Lächeln zu verziehen.
»Du musst aus dem Schatten heraustreten«, sagte die Schwester. »Weißt du nicht, dass du Gott umso näher bist, je schöner du in seinem Licht leuchtest?«
»Die Dunkelheit ist überall um mich herum«, hörte Guda sich flüstern.
»Das ist die Dunkelheit der Welt voller Schmerz und Leid. Du hältst sie fest. Wenn du blind gegen die Dunkelheit wirst, ist das Licht am schönsten, und in der Blindheit siehst du am allerklarsten. Wenn du dir selbst abhandenkommst, ist deine Stärke am größten.«
Guda hielt die Tränen mit letzter Kraft zurück. Sie merkte dennoch, dass der Anblick der jungen Frau zu verschwimmen begann. Einzig ihre Augen sah sie noch klar, und in ihrem eigenen Schmerz erkannte sie, dass darin mehr war als das Licht in den Glasaugen eines Engels im Kirchenfenster – dass etwas darin versteckt war, von dem man nicht erkennen konnte, was es war, sondern lediglich erahnte, dass es offenbar würde, wenn man die richtige Frage stellte. Frage mich , sagte dieses Etwas, dieses Licht im Licht, frage mich, und ich werde dich und mich erlösen .
»Weißt du nicht, woher das Licht kommt?«, klang die Stimme der jungen Nonne in Gudas Seele. »Die Liebe hat es erschaffen. Darum kann kein Geschöpf es auslöschen oder verdunkeln. Und die Liebe hat deine Seele erschaffen, deshalb ist sie ebenfalls vom Licht erfüllt. Kein Geschöpf kann deine Seele auslöschen, kann ihr weder hinwegnehmen noch hinzufügen; nur die Liebe kann das. Weißt du, was die Seelen der Menschen in Wahrheit sind? Die Lichter des Himmels in der Finsternis der Welt. Die Schlüssel zur Pforte in die Ewigkeit.«
Frage mich , sagte das halb erahnte Etwas, das in den strahlenden Augen der Schwester ruhte, frage mich.
Und unvermittelt schob sich ein Anblick aus der Vergangenheit vor Gudas Augen. Es waren ebenfalls blaue Augen, dunkler als diese hier, Augen, die sie immer als leuchtend und funkelnd empfunden hatte und die ihren prüfenden Blick nun stumpf erwiderten, ihn auf einmal nicht
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