Die Pforten der Ewigkeit
heftig, dass es ihm wehtat. Er fühlte die Nässe vorn in seiner Kutte, wohin der Schreck ein paar Tropfen Urin hatte verspritzen lassen, bevor die natürlichen Reflexe eingesetzt hatten. Der Druck verschwand und mit ihm der Geruch eines hundertjährigen Ziegenbocks, als der Einsiedler zurücktrat.
Wie konnte der verwilderte Mann nur so lautlos sein? Und wo hatte er gesteckt? Er konnte sich doch nicht unter den Dornen des Brombeerdickichts versteckt haben?
»Du kannst dich umdrehen«, flüsterte der Einsiedler mit einem Unterton von Gereiztheit.
Hildebrand drehte sich um und erlebte einen weiteren Schock. Der Einsiedler sah aus wie ein Dämon aus dem tiefsten Schlund der Hölle – ein Wesen, das aus Dreck zusammengesetzt war. Dann wurde ihm klar, dass Bruder Azrael sein Gesicht mit Schlamm beschmiert hatte. Sein wildes Haar und sein zotteliger Bart waren Schmutzklumpen. Zwischen den Wasserspeiern am Dach einer Kathedrale hätte man den Einsiedler nicht herausfinden können. Das Einzige, was nicht dreckbeschmiert war, war die gespannte Armbrust mit dem eingelegten Bolzen, an den Hildebrand gestoßen war. Die Armbrust war auf ihn angelegt und zitterte nicht. Die Augen des Einsiedlers in der amorphen, graubraunen Masse seiner Gesichtszüge leuchteten bestürzend blau.
Bruder Hildebrand schielte auf die Spitze des Armbrustbolzens. Nach ein paar Sekunden senkte der Einsiedler die Waffe und zuckte mit den Schultern.
»Abt Philipp schickt mich«, sagte Hildebrand und versuchte, seine Stimme unter Kontrolle zu bringen.
»Ich habe nicht nach einem von euch verlangt.«
Bruder Hildebrand hob das Kästchen hoch. »Es ist deswegen.«
Der Einsiedler machte keine Anstalten, näher zu kommen. Seine Augen huschten kurz nach links und rechts. »Hast du irgendjemanden gesehen auf dem Weg hierher?«
»Nein.«
»Hat dich jemand gesehen?«
Bruder Hildebrand zögerte. Die Armbrust schwang nach oben und zielte erneut auf ihn. »Nein!«, rief Bruder Hildebrand. »Es ist nur … was soll das Ganze!? Die Armbrust! Das dreckverschmierte Gesicht! Ich hätte dich beinahe nicht wiedererkannt!«
»Gut«, wisperte Bruder Azrael. »Gut.«
Hildebrand offerierte erneut das Kästchen. Er fühlte sich ratlos und eingeschüchtert. Langsam senkte der Einsiedler die Armbrust und betrachtete das Kästchen misstrauisch.
»Was ist da drin? Ist das für mich?«
»Abt Philipp hat gesagt, ich solle es dir zeigen.« Hildebrand hörte sich selbst dabei zu, wie er in seiner Nervosität zu plappern begann. »Ich habe es ihm gebracht, nachdem ich tagelang darüber nachgedacht hatte, was ich tun sollte … ich meine, ich fragte mich die ganze Zeit über, warum sie es mir gegeben hatte … was treibt diese Frau an, welcher Hass ist in ihr und woher kommt er? … Und dann fragte mich Abt Philipp, wo ich es herhätte, und ich sagte es ihm, und er sagte: Und woher hat sie es? … Und danach schickte er mich …«
Der Einsiedler kam zu ihm herüber, und unwillkürlich trat Bruder Hildebrand einen Schritt zurück. Er stieß mit dem Rücken gegen das Dach des Rindenkobels. Das Kästchen, obwohl ihm vor dem Inhalt immer noch so ekelte wie an dem Tag, an dem Constantia es ihm überlassen hatte, hielt er wie einen Schild vor sich.
»Ich bin nur der Baumeister«, stotterte er. »Alles, was ich wollte, war, meine Pflicht zu tun und unser Kloster zu bauen. Ich verfluche den Tag, an dem der Teufel mich verführte, es auf Kosten meiner Schwestern im Geiste schaffen zu wollen.«
»Wovon redest du da, du Narr?«, flüsterte Bruder Azrael. »Gib schon her.« Er bückte sich und nahm Hildebrand das Kästchen mit einer Hand ab, die eher einer Tierpfote glich mit ihrem Schmutz und den langen, abgesplitterten Fingernägeln.
Bruder Azrael klappte den Deckel auf. Was von seinen Gesichtszügen zu erkennen war, veränderte sich nicht. Er machte nur eine Bewegung mit dem Kopf, als ob ihm der ausgefranste Kragen seiner Kutte zu eng wäre. Hildebrand sah die brandrote Narbe, die ihm schon früher aufgefallen war und die sich um Azraels Hals herumzog.
»Du bist sicher, dass dir niemand gefolgt ist? Ein schlanker Mann mit einem nichtssagenden Gesicht und der Angewohnheit, einem dauernd auf die Schulter zu klopfen? Er nennt sich Gabriel.«
Verwirrt schüttelte Hildebrand den Kopf.
Der Einsiedler war seinerzeit scheinbar aus dem Nichts aufgetaucht. Hildebrand hatte nie erfahren, von welchem Kloster er gekommen war, und soweit er wusste, kannte auch kein anderer der
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