Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Pforten Des Hades

Die Pforten Des Hades

Titel: Die Pforten Des Hades Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Saylor
Vom Netzwerk:
Menschen, was verlorenging, als in den letzten Wirren des Bürgerkrieges vor zehn Jahren ein großes Feuer auf dem Kapitolinischen Hügel wütete, den Jupitertempel verschlang, in die steinerne Truhe eindrang und die Bücher der Sibylle in Asche verwandelte. Sulla machte seine Feinde für den Brand verantwortlich, seine Feinde umgekehrt ihn; jedenfalls war es kein gutes Omen für den Beginn seiner dreijährigen Diktatur. Hatte Rom ohne die Prophezeiung der Sibyllinischen Bücher überhaupt eine Zukunft? Der Senat schickte Gesandte nach Griechenland und in den Orient, um nach heiligen Texten zu fahnden, die die verlorenen Sibyllinischen Bücher ersetzen konnten. Offiziell geschah dies mit dem Einverständnis und zur vollen Zufriedenheit der Priesterschaft und des Senats. Für Zeitgenossen, die zwar den göttlichen Willen respektieren, menschlichen Institutionen gegenüber jedoch skeptisch bleiben, sind die Möglichkeiten des Betrugs und der Täuschung, zu denen eine solche Schatzsuche einlädt, zu atemberaubend, um sie auch nur zu erwägen.
    Die Tiefen, in die die Sibylle von Cumae in der allgemeinen Wertschätzung zumindest in Rom abgesunken war, lassen sich daran erahnen, daß kein Gesandter zu ihr geschickt wurde, als die Originalbücher für immer verloren waren. Es wäre doch gewiß naheliegend und sinnvoll gewesen, zur Quelle zurückzukehren, um das obskure Schrifttum zu ersetzen - oder war es die Aussicht, ein zweites Mal übervorteilt zu werden, die den Senat zurückschrecken ließ?
    Rund um den Golf wird die Sibylle nach wie vor verehrt, vor allem von den Bewohnern der alten griechischen Siedlungen, in denen man anstelle einer Toga einen Chlamys trägt und häufiger Griechisch als Latein spricht. Die Sibylle ist ein Orakel im orientalischen Sinne; sie, oder genauer gesagt es, ist ein Medium zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen, befähigt, beide Welten zu berühren. Wenn die Sibylle in eine ihrer Priesterinnen fährt, kann jene mit der Stimme Apollos selbst sprechen. Derartige Orakel hat es seit dem Anbeginn der Zeit gegeben, von Persien bis Griechenland und in den weit verstreuten alten griechischen Kolonien wie Gumae, doch die Römer haben sie nie ganz überzeugen können. Wir ziehen es vor, den Willen der Götter von beseelten Individuen deuten zu lassen, die Rauchwölkchen beobachten oder mit Bohnen in einer Kürbisflasche rasseln, anstatt der göttlichen Botschaft direkt zu lauschen. Von den einheimischen Dorfbewohnern, die ihr Vieh und Münzen als Opfer bringen, wird die Sibylle von Gumae jedoch noch immer hoch geachtet. Bei der schicken Elite Roms, die die großen Villen am Meer bewohnt, genießt sie weniger Gunst. Die Reichen ziehen es vor, sich ihre Weisheit bei zu Gast weilenden Philosophen zu suchen und ihr Mäzenatentum den allseits respektierten Tempeln des Jupiters und der Fortuna in Puteoli, Neapolis oder Pompeji angedeihen zu lassen.
    Es überraschte mich nicht, den Apollo-Tempel beim Heiligtum der Sibylle in einem Zustand fortschreitenden Verfalls vorzufinden. Er war nie ein imposantes Bauwerk gewesen, ungeachtet der Legenden von Dädalus und seinen goldenen Verzierungen. Der Tempel war nicht einmal aus Stein, sondern aus Holz, mit einer bronzenen Apollo-Statue auf einem Marmorsockel in der Mitte. Über rot, grün und safranfarben bemalten Säulen spannte sich eine kreisrunde Decke, deren Unterseite in Dreiecke unterteilt und mit Abbildungen von Apollo verziert war, der über diverse Stationen der Theseus-Sage wachte: die Leidenschaft der Pasiphae für einen Stier und die Geburt des Minotaurus von Kreta; das Los, das jährlich geworfen wurde, um die sieben Söhne Athens zu bestimmen, die dem Untier geopfert werden sollten; die Errichtung des riesigen Labyrinths durch Dädalus; die Trauer der Ariadne; Theseus Sieg über das Ungeheuer; der Flug des Dädalus und seines todgeweihten Sohns Ikarus. Einige der Gemälde sahen sehr alt aus und waren so verblichen, daß man sie kaum noch erkennen konnte; andere waren erst kürzlich ausgebessert worden und erstrahlten in lebendigen Farben. Offenbar war eine Restaurierung im Gange, und ich hatte auch eine Ahnung, wer dafür verantwortlich zeichnete.
    Der Tempel lag in einer auf drei Seiten von zerklüftetem Fels umgebenen Nische, die das einzige Stück ebenen Bodens in dem steilen, mit Felsen übersäten Abhang darstellte; die Brocken wirkten wie eine erstarrte, talwärts donnernde Gerölllawine und waren von knorrigen Bäumen bewachsen, die

Weitere Kostenlose Bücher