Die Philosophen der Rundwelt
jeder Versuch, auf der Rundwelt etwas geradezu zu tun – etwa Leben zu erschaffen oder eine aus dem Stand loslegende Extelligenz –, ist völlig danebengegangen.
Diese beiden Weltsichten widersprechen einander nicht, denn es sind Weltsichten zweier verschiedener Welten. Und doch erhellt jede Welt dank der Verknüpfung des B-Raums die andere.
Die seltsame Dualität zwischen Scheibenwelt und Rundwelt hat eine Parallele in einer anderen: der Dualität zwischen Geist und Materie. Als der Geist auf die Rundwelt kam, geschah eine sehr bemerkenswerte Veränderung. Der narrative Imperativ erschien auf der Rundwelt. Die Magie begann ihr Dasein. Und Elfen und Vampire, Mythen und Götter. Charakteristisch ist, dass alle diese Dinge auf indirekte und ungewöhnliche Weise zu existieren begannen, wie das Verhältnis zwischen Regeln und Folgen. Die Dinge geschahen nicht direkt wegen der Macht der Geschichte. Vielmehr veranlasste die Macht der Geschichte, dass menschliche Geister versuchten , die Dinge in der Geschichte geschehen zu lassen. Die Versuche hatten nicht immer Erfolg, doch selbst wenn sie misslangen, veränderte sich die Rundwelt für gewöhnlich.
Der narrative Imperativ erschien auf der Rundwelt wie ein kleiner Gott und wuchs gemäß dem Glauben der Menschen. Wenn eine Million Menschen alle dieselbe Geschichte glauben und versuchen, sie wahr zu machen, kann ihr vereintes Gewicht ihre individuelle Unwirksamkeit wettmachen.
Auf der Scheibenwelt gibt es keine Wissenschaft, nur Magie und Narrativium. Also brachten die Zauberer die Wissenschaft in Form des Rundwelt-Projekts auf die Scheibenwelt, wie es in Die Gelehrten der Scheibenwelt ausführlich dargestellt ist. In eleganter Symmetrie gab es auf der Rundwelt weder Magie noch Narrativium, doch die Menschen brachten sie in Form der Geschichten dorthin.
Bevor ein narrativer Imperativ existieren kann, muss es eine Erzählung geben, und dabei erwies sich der Geist als entscheidend. Der Imperativ folgte der Erzählung auf dem Fuße, und die beiden machten eine komplizite Co-Evolution durch, denn sobald es eine Geschichte gab, gab es auch jemanden, der sie wahr machen wollte. Allerdings war die Geschichte diesem Drang um eine Nasenlänge voraus.
Was die Menschen von allen anderen Wesen auf dem Planeten unterscheidet, sind nicht Sprache, Mathematik oder Wissenschaft. Auch nicht Religion, Kunst oder Politik. All das sind nur Nebenwirkungen zur Erfindung der Geschichten. Nun könnte man meinen, dass es ohne Sprache keine Geschichten geben könnte, doch das ist eine Illusion, hervorgebracht von unserer gegenwärtigen Besessenheit, Geschichten in Form von Worten auf Papier festzuhalten. Ehe es ein Wort für »Elefant« gab, konnte man auf einen Elefanten zeigen und viel sagende Gesten machen, man konnte einen Elefanten auf die Höhlenwand zeichnen und auf ihn zufliegende Speere hinzufügen oder das Modell eines Elefanten aus Lehm formen und eine Jagdszene spielen. Die Geschichte war völlig klar, und oft folgte ihr auf dem Fuße eine Elefantenjagd.
Wir sind nicht Homo sapiens , der Weise Mensch. Wir sind der dritte Schimpanse. Was uns vom gewöhnlichen Schimpansen Pan troglodytes und vom Bonobo-Schimpansen Pan paniscus unterscheidet, ist weitaus raffinierter als unser enormes Gehirn, welches im Verhältnis zum Körpergewicht dreimal so groß wie das ihre ist. Der Unterschied liegt in dem, was dieses Gehirn möglich macht. Und der bedeutendste Beitrag, den unser großes Gehirn für unsere Herangehensweise ans Universum geleistet hat, war es, uns mit der Macht der Geschichte auszustatten. Wir sind Pan narrans , der Geschichten erzählende Affe.
Selbst heute, fünf Millionen Jahre, nachdem wir und die beiden anderen Schimpansenarten getrennte Evolutionswege einschlugen, verwenden wir noch Geschichten, um unser Leben zu lenken. Jeden Morgen kaufen wir eine Zeitung, um, wie wir uns sagen, herauszufinden, was auf der Welt geschieht. Doch das meiste, was auf der Welt geschieht, sogar ziemlich wichtige Dinge, kommt nie in die Zeitungen. Warum nicht? Weil Zeitungen von Journalisten geschrieben werden und jeder Journalist mit der Muttermilch eingesogen hat, dass es eine Geschichte ist, was die Aufmerksamkeit der Zeitungsleser fesselt. Ereignisse, deren Bedeutung für den Planeten gleich Null ist, wie die zerrüttete Ehe eines Filmstars, sind Geschichten. Ereignisse, die ziemlich große Bedeutung haben, wie die Verwendung von Chlorfluorkohlenstoffen (CFK) als Treibmittel in
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