Die Philosophen der Rundwelt
Sprühdosen für Rasierschaum, sind keine Geschichten. Ja, es können Geschichten daraus werden, und in diesem Fall werden sie es, wenn wir entdecken, dass besagte CFK die Ozonschicht zerstören; wir haben sogar einen Titel für die Geschichte: Das Ozonloch. Doch niemand wusste oder erkannte, dass es da eine Geschichte gab, als die Geschäfte die ersten Sprühdosen verkauften, obwohl dies das entscheidende Ereignis war.
Religionen haben immer die Macht einer guten Geschichte erkannt. Wunder machen mehr Kasse als weltliche gute Taten. Einer alten Dame über die Straße zu helfen bringt als Geschichte nicht viel, wohl aber, Tote zu erwecken. Die Wissenschaft ist von Geschichten durchsetzt. Wenn man nämlich keine überzeugende Geschichte über seine Forschungen erzählen kann, wird sie niemand zur Veröffentlichung annehmen. Und selbst wenn die Forschungsergebnisse veröffentlicht würden, würde niemand sie verstehen. Die Newton’schen Bewegungsgesetze sind einfache kleine Geschichten darüber, was mit Materieklumpen passiert, wenn man ihnen einen Stoß gibt – Geschichten, die nur wenig genauer sind als »wenn man kräftig tritt, fährt man immer schneller«. Und »alles bewegt sich in Kreisen«, wie Ponder nachdrücklich feststellen würde.
Warum hängen wir derart an Geschichten? Unser Geist ist zu beschränkt, um das Universum so zu erfassen, wie es ist. Wir sind sehr kleine Wesen in einer sehr großen Welt, und es gibt für uns keine Möglichkeit, uns diese Welt mit allen feinen Einzelheiten in unserem Kopf zu vergegenwärtigen. Stattdessen verwenden wir vereinfachte Darstellungen von beschränkten Teilen des Universums. Wir finden einfache Modelle, die der Wirklichkeit nahe entsprechen, außerordentlich anziehend. Ihre Einfachheit macht es leicht, sie zu erfassen, doch das nutzt nicht viel, wenn sie nicht auch funktionieren . Wenn wir ein komplexes Universum auf ein einfaches Prinzip zurückführen, sei es Gottes Wille oder die Schrödingergleichung, haben wir das Gefühl, wirklich etwas erreicht zu haben. Unsere Modelle sind Geschichten, und umgekehrt sind Geschichten Modelle einer komplexeren Wirklichkeit. Unsere Gehirne fügen die Komplexität automatisch hinzu. Die Geschichte sagt »Hund«, und sogleich haben wir ein geistiges Bild von dem Tier: ein großer Labrador mit einem Schwanz wie ein Dampfhammer, heraushängender Zunge, Hängeohren.* [* Es ist dann ein ziemlich großer Schock, wenn wir entdecken, dass das Tier ein Chihuahua ist.] Ebenso, wie unser visuelles System den blinden Fleck auffüllt.
Wir lernen als Kinder, die Geschichten zu schätzen. Der Geist des Kindes ist schnell und mächtig, aber unkontrolliert und nicht raffiniert. Geschichten sprechen ihn an, und Erwachsene haben rasch entdeckt, dass eine Geschichte einem Kind eine Idee eingeben kann wie sonst nichts. Geschichten sind leicht zu behalten, sowohl für den Erzähler als auch für den Zuhörer. Während das Kind heranwächst und erwachsen wird, bleibt die Liebe zu den Geschichten. Ein Erwachsener muss der nächsten Generation von Kindern Geschichten erzählen können oder die Kultur pflanzt sich nicht fort. Und ein Erwachsener muss anderen Erwachsenen wie dem Chef oder dem Partner Geschichten erzählen können, denn Geschichten haben eine Klarheit der Struktur, die im Wirrwarr der wirklichen Welt nicht vorkommt. Geschichten haben immer einen Sinn: Darum ist die Scheibenwelt viel überzeugender als die Rundwelt.
Unser Geist erschafft Geschichten, und Geschichten erschaffen unseren Geist. Der Menschenbaukasten einer jeden Kultur besteht aus Geschichten und wird von Geschichten aufrechterhalten. Eine Geschichte kann eine Regel für das Leben gemäß der eigenen Kultur sein, ein nützlicher Überlebenstrick, ein Schlüssel zur Großartigkeit des Universums oder eine geistige Hypothese darüber, was geschehen könnte, wenn wir einen bestimmten Kurs verfolgen. Geschichten dienen als Karten für den Phasenraum des Daseins.
Manche Geschichten sind pure Unterhaltung, doch selbst diese haben für gewöhnlich eine verborgene Botschaft auf einer tieferen, vielleicht bodenständigeren Ebene – wie bei Rumpelstilzchen. Manche Geschichten sind Welten des Wenn, eine Methode, wie ein Geist mögliche Entscheidungen ausprobieren und sich ihre Folgen vorstellen kann. Wortspiele im Nest des Geistes. Und manche von jenen Geschichten haben eine derart zwingende Logik, dass der narrative Imperativ die Führung übernimmt und aus ihnen Pläne macht.
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