Die Philosophin
Weg ins Paradies zu begleiten, breitete sich in den Straßen und Gassen der Geruch von Schwefel aus. Empörung und Streit allerorten! Während die Priester von den Kanzeln Hirtenbriefe verlasen, die den Verzehr von Eiern in der Fastenzeit verboten, leugneten Freidenker in den Salons die Existenz des allmächtigen Gottes. Kutschierten bei Tage die Reichen durch den Bois de Boulogne, um mit ihren prächtigen Karossen zu prunken, waren sie bei Nacht ihres Lebens nicht sicher, wenn marodierende Banden im Schutz der Dunkelheit auf Beutezug gingen. Denn es konnte im selben Haus geschehen, dass der eine Bewohner darüber nachsann, wie er seine Millionen anlegen solle, während sein Nachbar nicht wusste, wo er ein paar Sous borgen konnte, um seine Kinder noch einen Tag länger zu ernähren.
Waren diese himmelschreienden Gegensätze von Gott gewollt? Oder rührten sie von der Ordnung her, welche die Menschen sich im Laufe der Jahrhunderte selber gegeben hatten? Wie durch unsichtbare Schranken voneinander abgegrenzt, gliederte sich die Einwohnerschaft von Paris in scharf getrennte Klassen: Die zahlenmäßig schwächste, aber keineswegs unbedeutendste, war die der Prinzen und großen Herren; dann folgten die Talarträger, die Finanzleute, die Krämer und Händler, die Künstler, die Handwerker, die Lohnarbeiter und die Lakaien, während den Schluss das Gesindel bildete. Wo aber fing das Gesindel an? Müßiggänger und Nichtsnutze trieben sich in allen Klassen herum. Wie viele der noblenHerren, die ihren Adel auf Adam und Eva zurückführen konnten, scheuten die Arbeit wie Maulwürfe das Licht! Dann die Herrschaften im zweiten Rang, die ihren Titel von den Heldentaten eines längst verblichenen Vorfahren herleiteten, um sich für alle Zeit auf dessen Lorbeeren auszuruhen; des Weiteren die Kohorten von Kanzlisten, Gerichtsdienern und Schreibern, die vielen tausend Renommierlakaien, die als Bedienstete des Staates nur die Steuerlast erhöhten. Die Kirche hätschelte zahllose Seminaristen, die wie schwarze Wolken aus den Kollegien quollen, ohne jemals einer Menschenseele zu dienen. Die Ärzte gingen mit dem Schröpfkopf von Tür zu Tür, um jedermann, sei er leidend oder gesund, für gutes Geld zur Ader zu lassen, während die Finanziers, vom Generalpächter bis zum kleinen Winkelwucherer, wie ein Schlangengezücht über ihre Opfer herfielen und ihnen das Blut aussaugten. Wenn man dazu all die Leute ins Auge fasste, deren Tagwerk nichts als Unglück brachte, all die Hauswirte und Zinseintreiber, die keine andere Beschäftigung kannten, als vor sich hin zu dösen, die bestechlichen Richter und Advokaten, dazu die Kutscher, die Postillione und die Stallburschen, und wenn man dieser Armee der Nichtstuer noch die endlosen Scharen der Mönche, der Domherren und Kaplane beifügte – dann ahnte man mit Schrecken, wie es um die Hauptstadt des Königreichs bestellt sein musste!
Die Obrigkeit hatte alle Hände voll zu tun, diesen Gärbottich unter Kontrolle zu halten. Ließe man dem Volk von Paris die Zügel schießen, spürte es nicht dauernd hinter seinem Rücken die berittenen Wachen und Patrouillen, die Gendarmen und Kommissare, dann würde es bald jedes Maß verlieren, und es gäbe kein Halten mehr. Wachsamkeit war darum das oberste Gebot. Die Polizeiregimenter, die Truppender Garde, die königliche Leibwache – sie alle lagen einsatzbereit in ihren Kasernen, um mögliche Aufstände im Keim zu ersticken. Gott sei Dank schloss ihre Präsenz in der Stadt Zusammenrottungen bereits so gut wie völlig aus. Meist genügte eine einzige Schwadron, um Trupps von fünfhundert Männern auseinander zu jagen, und alles war wieder friedlich, kaum hatten die Soldaten zwei, drei Hitzköpfe in Ketten gelegt. Auf diese Weise sorgte die Obrigkeit dafür, dass es ruhig blieb in Paris, und je länger diese Ruhe anhielt, desto schwerer schien sie erschüttert werden zu können.
Doch irgendwo mussten die aufgestauten Gase und Gärungen im Gedärm des großen Kraken sich Ausgang verschaffen. So blieb die schwelende Unruhe nicht länger auf die Stadt Paris beschränkt. Und ganz allmählich, unmerklich fast, streckte der Krake seine Arme nach Versailles aus.
2
Dominos und Schäferinnen, chinesische Mandarine und griechische Göttinnen, Pharaos und Südseeinsulanerinnen füllten zu Hunderten den Spiegelsaal, der im Glanz der Kronleuchter erstrahlte. Madame de Pompadour hatte zum Maskenball geladen, und seit Stunden war der Hof von Versailles damit
Weitere Kostenlose Bücher