Die Philosophin
Kassette wertvollem Tafelsilber – und dem entliehenen Band der Enzyklopädie.
Aber was kümmerte das Sophie? Sie war so glücklich, dass weder Robert noch sein Verrat ihre Hochstimmung trüben konnten.
Kaum hatte Poisson ihr freigegeben, verließ sie das Haus. Es war ein so herrlich schöner Tag, wie nur der Mai ihn herbeizaubern konnte. Die laue Morgenluft umschmeichelte ihre Haut wie Seide. Kein Wölkchen bedeckte den Himmel, und als sie die Place Michel überquerte, flatterte eine Schar Tauben vor ihr auf und begleitete sie quer über den Platz, als wollten die Vögel mit ihr das Wunder feiern, an dessen Wirklichkeit Sophie inzwischen keinen Zweifel mehr hatte.
Ach, wie herrlich war das Leben! Ganz Paris schien ein einziges großes Fest zu sein. An allen Ecken spielten Straßenmusikanten, die Luft war von tausend Klängen erfüllt, von Geigen und Flöten, von Oboen und Trommeln. Selbst die Rufe der Wasserträger und Kaninchenfellverkäufer, der Fischhökerinnen und Schrotthändler, die einem sonst so fürchterlich in den Ohren gellten, dass es kaum auszuhalten war, klangen heute wie die wunderbarste Musik der Welt.
Die Enzyklopädie durfte wieder erscheinen! Sophie konnte es gar nicht erwarten, Diderot endlich zu sehen. Sie hatten sich an der Seine verabredet, unter der Brücke, wo sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Sophie war voller Pläne und Ideen – genug, um hundert Bände zu füllen. Aber sie hatte noch eine Überraschung für ihn, ein Geschenk, das wertvoller war als alle Bücher der Welt, wertvoller sogar als die Enzyklopädie. Dieses Geschenk würde sie für immer als Mann und Frau miteinander verbinden, auch wenn sie vor Gott und der Welt nicht als Paar gelten durften.
Plötzlich duftete es wie auf einer Frühlingswiese. Am Pont Saint-Michel säumten die Buden der Blumenhändler den Quai – Blüten in allen Farben des Regenbogens. Zwischen Kübeln voller Lilien lief Sophie die Treppe hinunter zur Seine, und sie hatte das Flussufer noch nicht erreicht, alssie ihn auch schon sah. Angelehnt an einen Brückenpfeiler, wartete Diderot auf sie.
Auch er erkannte sie bereits von weitem und trat unter der Brücke hervor. Sie eilte ihm entgegen, und dann sah sie in seine Augen, in diese unglaublich hellen blauen Augen, in denen sie zu ertrinken glaubte. Sie war seinem Gesicht ganz nahe, sie spürte die Wärme seiner Haut. Die Mücken in ihrem Nacken summten so laut, dass sie den Lärm der Stadt übertönten. Alles schien plötzlich stillzustehen, und Sophie hatte nur noch einen Wunsch: diesen Mann zu küssen. Sie schloss die Augen, um mit ihm in jenes Paradies einzutauchen, das er ihr mit seinem ersten Kuss erschlossen hatte – da hörte sie seine Stimme.
»Ich muss dir etwas sagen, Sophie.«
»Dass du mich liebst? Aber das weiß ich doch, mein Liebster!«
Zärtlich blickte sie ihn an. Er schüttelte den Kopf.
»Nicht? Was dann? Dass du mich begehrst? Dass du mich haben willst? Jetzt gleich?« Sie spürte, wie der Gedanke sie erregte, und ihre Stimme wurde rau. »Ich muss gestehen, ich hätte nichts dagegen.«
Sie wollte seine Wange streicheln, doch er wich ihrer Berührung aus.
»Was ich dir sagen muss, wird dir nicht gefallen, Sophie. Aber … aber ich habe keine Wahl.« Er schluckte, bevor er weitersprach. »Du kannst nicht länger mit uns arbeiten.«
»Nicht länger mit euch arbeiten? Was meinst du damit?«
»Die Enzyklopädie. Es geht nicht, dass du weiter mitmachst. Ich meine, es geht nicht, dass du irgendwelche Artikel schreibst oder redigierst, oder dass du – ach, Herrgott nochmal!«, rief er auf einmal laut. »Du weißt doch genau, was ich meine!«
So plötzlich, wie er aufgebraust war, verstummte er. Er schlug die Augen nieder, sein Gesicht war ganz rot.
»Das … das meinst du nicht im Ernst«, stotterte sie, nur mühsam den Sinn seiner Worte erfassend.
»Doch, Sophie. Ich habe es mir lange überlegt, und es fällt mir verteufelt schwer, es dir zu sagen, das musst du mir glauben – aber es ist die einzige Möglichkeit. Es geht einfach nicht, dass eine Frau …«
»Dass eine Frau
was?
«
»Dass eine Frau für die Enzyklopädie arbeitet. Weder unter ihrem eigenen noch unter einem anderen Namen. Wir haben es versucht, aber es geht einfach nicht. Es ist wie ein … wie ein Naturgesetz. Das müssen wir begreifen.«
Sophie fühlte sich, als hätte jemand einen Kübel Wasser über sie geleert.
»Das wagst du, mir zu sagen? Nach allem, was gewesen ist?«
»Ja, leider, Sophie.
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